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Ungarisches Parlament

APA/AFP/POOL/Zoltan MATHE

In Ungarn soll nur noch das „Geschlecht bei der Geburt“ zählen

Im ungarischen Parlament wird derzeit ein Gesetz erarbeitet, mit dem das eingetragene „Geschlecht bei der Geburt“ nicht mehr geändert werden kann. Für Transgender-Personen bedeutet das, fast täglich zwangsgeoutet zu werden.

Von David Riegler

Der 31. März ist der „International Transgender Day of Visibility“, ein Tag, an dem Transgender-Personen ihre Identität feiern und auf Diskriminierung aufmerksam machen. Genau an diesem Tag hat die ungarische Regierung im Parlament heuer ein großes Gesetzespaket vorgeschlagen, in dem enthalten ist, dass statt dem gelebten Geschlecht nur noch das „Geschlecht bei der Geburt“ in Dokumenten und Ausweisen stehen soll.

Das Geschlecht, das bei der Geburt eingetragen wird und von den Ärzt*innen über äußere Geschlechtsmerkmale und Chromosomen bestimmt wird, kann laut diesem Gesetzesvorschlag nicht mehr geändert werden. Das trifft vor allem zwei Gruppen: Intersexuelle Menschen, die nicht einverstanden sind mit dem eingetragenen „Geburtsgeschlecht“, und Transgender-Personen, die das gelebte Geschlecht auch rechtlich eintragen lassen möchten.

Von unangenehmen Situationen bis Gewaltandrohung

Es ist nicht der erste Angriff auf die Transgender-Community durch die ungarische Regierung unter Viktor Orbán, sagt die Aktivistin und Software-Entwicklerin Ivett Ördög. Obwohl es eigentlich seit 2018 eine rechtliche Grundlage dafür gibt, einen Antrag auf Geschlechts- und Namensänderung zu stellen, bearbeiten die Behörden seit über zwei Jahren diese Anträge einfach nicht mehr. Der offizielle Grund dafür ist, weil sie eine zusätzliche Stellungnahme des Gesundheitsministeriums fordern. Ivett wartet seit mehr als einem Jahr auf eine Antwort der Behörde: „I cannot even change my name legally. Ivett is not my legal name, although I am using it everywhere.“

I have been in several situations that were ranging from extremely uncomfortable to outright dangerous

Transgender-Personen werden jedes Mal zwangsgeoutet, wenn sie ihren Ausweis herzeigen müssen, zum Beispiel bei Kontrollen in den Öffis. Das kann zu gefährlichen Situationen führen, wie auch Ivett erleben musste: „Even just in this one year since I’ve been living and passing as a female, I have been in several situations that were ranging from extremely uncomfortable to outright dangerous.“

Ivett erzählt, dass sie schon mehrfach beschuldigt wurde, einem Mann die Identität und die Ausweise gestohlen zu haben. Bei jeder Ausweiskontrolle muss sie sich erklären, was auch die Menschen rund um sie mitbekommen. Dabei hört sie regelmäßig transphobe Kommentare und manchmal sogar Gewaltandrohungen. Als Vorsichtsmaßnahme fährt sie nur noch mit dem Auto und vermeidet Ausweiskontrollen so gut es geht.

Gesetz im Schnellverfahren

Die ungarische NGO Háttér Society, die sich für LGBTIQ-Rechte einsetzt, hat den Gesetzesvorschlag geprüft und darin einige offene Fragen entdeckt. Vorstandsmitglied Tamás Dombos befürchtet, dass auch Menschen betroffen sind, die in der Vergangenheit erfolgreich ihr Geschlecht geändert haben:

It might be the case that all those people who have transitioned legally in the past two decades, will now have their documents stripped away again

Manche Menschen haben nach ihrer rechtlichen Geschlechtsänderung geheiratet. Auch hier ist die Frage offen, ob diese Ehen für ungültig erklärt werden könnten, denn die gleichgeschlechtliche Ehe gibt es in Ungarn nicht. Tamás Dombos sieht den Grund für die vielen Unklarheiten darin, dass das Gesetz im Schnellverfahren, mitten in der Coronavirus-Krise erstellt wurde, damit es ohne große Aufmerksamkeit durchgesetzt werden kann: „Everyone is afraid of the health risk and losing their employment. They don’t think about issues like this. I think they wanted to have this bill adopted under the carpet, so no one noticed it.“

Doch man hat es bemerkt, sowohl in Ungarn als auch in der EU. Ungarn stand schon zuvor in der Kritik, weil die Regierung den Notstand ausgerufen hat und jetzt per Dekret regieren kann. Die Opposition spricht von einer De-facto-Diktatur. Das Gesetzespaket, in dem der Anti-Transgender-Erlass enthalten ist, beinhaltet auch andere kontroverse Beschlüsse, zum Beispiel die Einschränkung der Selbstverwaltung von Universitäten und von Bürgermeistern, die immer öfter der Opposition angehören. Da die Regierung eine Zwei-Drittel-Mehrheit hat, wird davon ausgegangen, dass das gesamte Gesetzespaket angenommen wird.

Kritik aus der EU

Einige Stimmen aus der EU zeigten sich bereits beunruhigt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, sagte in einer Erklärung: „Transgender-Personen haben das Recht auf legale Anerkennung ihres Geschlechts auf der Grundlage der Selbstbestimmung.“

Terry Reintke, Co-Präsidentin der „LGBTI Intergroup“ im Europäischen Parlament schrieb in einer Aussendung: „Die Möglichkeit einer legalen Anerkennung des Geschlechts ist die Grundlage für den Schutz von Transgender-Personen. Ohne diesen Zugang sind sie Diskriminierung und Schikanen ausgeliefert. Die Europäische Gemeinschaft muss sicherstellen, dass dies nicht ungestraft bleibt.“

Keine Aussicht auf Anerkennung

Tamás Dombos von der NGO Háttér Society, ist überzeugt davon, dass das Gesetz im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig eingestuft werden wird. Doch bis zu einem solchen Urteil könnten mehrere Jahre vergehen und außerdem könne der ungarische Staat nicht gezwungen werden, das Urteil umzusetzen: „This law will be challenged, nationally and internationally. But unfortunately, those legal procedures take time. For many people those coming years will be a suffering.“

Diese Befürchtung teilt Ivett Ördög. Sie sieht in Ungarn keine Möglichkeit mehr, dass ihr gelebtes Geschlecht anerkannt wird. Für sie gibt es nur eine Möglichkeit: „Every other week or sometimes several times a week, I have to show an ID that gives me away as a trans person. Right now, I feel like my only option is to get another citizenship.“ Doch auch das kann mehrere Jahre dauern, in denen Ivett fast täglich die transphoben Kommentare und bedrohlichen Situationen ertragen muss.

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