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ländliche Landschaft beim Lockdown-Spaziergang durch Kent

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Corona in UK: „Rückblickend wohl etwas übervorbereitet“?

Ein Spital ohne Kranke, ein Test-Zentrum ohne Getestete, eine Seuche von minderer Konsequenz, eine Regierung, die den Gipfel der Infektionen genau vorausgesagt hat - kein Wunder, dass Boris Johnson so beliebt ist. Trotz mehr als 28.000 Toten. So geht die hohe Kunst der umgedrehten Kausalität im britischen Katastrophenmanagement.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Komische Umkehrung der Vorzeichen zwischen euch und mir: Auf meiner Timeline seh ich heutzutage Bilder von Menschen, die über die Mariahilfer Straße streunen. Ja, mit Masken, aber ansonsten ganz so wie Mitte März in London, als so viele von euch die Leute hier (zurecht) für fahrlässig oder verrückt erklärten.

„Arg,“ denkt man sich jetzt hier genauso. „Sind die sich sicher, dass sie wissen, was sie tun?“

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Die Antwort überlass ich euch selber, genauso wie den Vergleich eventueller Parallelen und Unterschiede zwischen Österreich und Großbritannien. Bei uns hier drüben reden sie jedenfalls noch im Futur von der Aufhebung eines Lockdown, den es allerdings – schon allein aus der Frequenz der allmorgendlich am Schlafzimmerfenster vorbeifahrenden Autos zu schließen – in Wahrheit ohnehin nie wirklich gegeben hat.

In der Zwischenzeit erkunde ich hier immer noch zu Fuß Teile der Umgebung, an denen ich bisher ahnungslos vorbeigefahren bin, Wälder voller Glockenblumen, von sanftem Grün gerahmte Kirchentürme (siehe Bilder oben und unten), und denke mir: Schönes Land, dieses England, eigentlich.

Und, wenn ich dann die Nachrichten aufdreh: Kein Wunder aber auch, dass George Orwell ausgerechnet hierzulande das Konzept von Doublethink und Newspeak erfunden hat.

Wald mit Glockenblumen

Robert Rotifer

Während ich das schreibe, steht die offizielle Zahl von Toten in Spitälern, ergänzt um manche, aber sicher nicht alle bisher in Pflegeheimen gestorbene Opfer, bei weit über 28.000.

Das sind jetzt schon 8.000 verlorene Menschenleben mehr als das bei Verhängung des sogenannten Lockdown erhoffte Ziel von 20.000. Mit ziemlicher Sicherheit wird Großbritannien demnächst den Katastrophenfall Italien überholen.

Die von Gesundheitsminister Matt Hancock angekündigte Zahl von mindestens 100.000 Tests pro Tag ab 30. April wurde dieweilen – nach erheblichen statistischen Kunstgriffen am Tag der Deadline, als per Post verschickte, aber nicht ausgewertete Tests mitgezählt wurden - seither täglich um 20.000 bis 30.000 unterschritten.

Dazu gesellen sich Geschichten, wonach das Outsourcing von Tests an private Firmen zu falsch zugeordneten oder überhaupt verschlampten Test-Ergebnissen geführt habe, wie zum Beispiel im realsatirischen Fall eines im Lunapark Chessington World of Adventures errichteten mobilen Testzentrums, betrieben von der für alles Mögliche von der Müllabfuhr bis zur Abschiebung von Asylwerber*innen zuständigen Firma Serco, gemeinsam mit dem Buchhaltungskonzern Deloitte.

Man sollte meinen, die Bevölkerung würde unter diesen Umständen ihr Vertrauen in Boris Johnsons Regierung verlieren. Aber nach jüngsten Umfragen befinden sich die britischen Konservativen im Höhenflug und würden bei Neuwahlen derzeit eine absolute Stimmenmehrheit erhalten.

Dahinter steckt nicht nur die tagelange Jubel-Berichterstattung um das neugeborene Baby, das die Freundin des Premierministers letzte Woche ihrem Partner – nach historischer Sprechart – geschenkt hat, sondern auch eine schier atemberaubende Umkehrung von Kausalitäten. Ganz erstaunlich, was da alles reingeht.

Da stellte sich etwa Boris Johnson vor fünf Tagen in der Downing Street vor die per Stream virtuell anwesende Presse und erklärte: „Ich denke, dass es vollkommen richtig war, unsere Periode des Lockdown so weit wie möglich mit dem Gipfel der Epidemie übereinzustimmen.“

Nun war es ja nach jeder Logik der Sinn des Lockdown, die Infektionsrate zu bremsen. Hätte der Zeitpunkt des Lockdown nicht den Gipfel an Infektionen markiert, wären die Maßnahmen völlig sinnlos gewesen.

Und doch ist es der von Johnson vollzogene, absurde Umkehrschluss, der dank sagenhaft unkritischer Medienberichterstattung in der öffentlichen Wahrnehmung hängen bleibt.

Mit seinem anhaltend skandalösen Versagen in der Verteilung von Schutzkleidung an seine Mitarbeiter*innen wiederum wäre das Gesundheitssystem NHS längst rechtsbrüchig, hätte man nicht mit 19. März – das ging ganz schnell – vorsorglich Covid-19 von der offiziellen Liste für infektiöse Krankeiten mit großen Folgen entfernt.

Und wo es dieser Liste zufolge keine nennenswerte Seuche gibt, gibt es auch kein Recht auf Schutzbekleidung.

„Protect the NHS“ steht bei jeder Pressekonferenz auf den Rednerpulten in der Downing Street. In der Praxis äußert sich das, wie u.a. in meinem letzten Blog hier berichtet, im gezielten Fernhalten älterer Patient*innen aus Krankenhäusern.

Das vor Wochen unter viel Mediengetöse eröffnete, mit 4.000 Betten ausgestattete Nightingale Hospital im Excel-Konferenzzentrum in London wird nach heutigen Meldungen wegen Mangel an Patient*innen vorläufig eingestellt. In seinen ersten drei Wochen waren dort gerade 51 (!) Corona-Kranke behandelt worden.

Nachdem täglich zwischen 700 und 800 Todesfälle in Spitälern verzeichnet werden und die in Eigen- und Pflegeheimen angefallene Dunkelziffer immer noch steil nach oben geht, sollte man meinen, dass da entweder mit den Einweisungen oder mit der Ausstattung des Notspitals gründlich was schiefgelaufen sein muss.

Stattdessen wird die gähnende Leere des Nightingale Hospital als Beweis dafür gefeiert, dass die zusätzlichen Betten aufgrund des großartigen Krisen-Managements der Regierung scheinbar gar nicht gebraucht wurden.

Lokalzeitungsartikel über verwaiste Testzentren

Robert Rotifer

Letzte Woche las ich wieder in meiner Lokalzeitung, dass die in meiner Umgebung eingerichteten mobilen Test-Zentren von so gut wie niemand aufgesucht würden. Das, behauptet ein praktischer Arzt namens Dr. Ribchester aus Whitstable im betreffenden Artikel, gebe Grund zur freudigen Annahme, „dass mehr von unseren Patient*innen gesund bleiben.“

Nun sind diese mobilen Test-Zentren nur über ärztliche Überweisung zugänglich, die Ordinationen der praktischen Ärzt*innen seit Wochen geschlossen (protect the NHS! Stay the fuck away!), Tests gibt es sowieso nur für Patient*innen mit akuten Symptomen, und die werden per Notrufnummer direkt den Krankenhäusern zugewiesen.

Ich habe also ehrlich keine Ahnung, wie man sich für so einen Test in einem dieser mobilen Test-Zentren überhaupt qualifizieren sollte. Insofern dann wenig verwunderlich, dass keine*r dort auftaucht.

Dessen ungeachtet frohlockt die Lokalzeitung zu Bildern untätig herumstehender Tester*innen über den ausgebliebenen Andrang. „Ich glaube“, zitiert man obigen Dr. Ribchester, „rückblickend sind wir wohl etwas übervorbereitet gewesen.“

In der Tischplatte vor mir zeichnet sich bereits eine beachtliche, mit einer Beule an meiner Stirn gegengleich korrespondierende Delle ab.

Höchste Zeit, dass sie den IKEA wieder aufsperren.

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