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Jugend am Werk: Bilder aus Tagesstrukturen und Ausbildungsstätten

Jugend am Werk / Kollektiv Fischka / fischka.com

auf laut

Was geschlossene Tagesstrukturen für Menschen mit Behinderung bedeuten

Während die Schulen jetzt nach und nach wieder aufsperren, bleiben Tagesstrukturen für Menschen mit Behinderungen bis auf Weiteres geschlossen. Viele von ihnen müssen derzeit den ganzen Tag bei den Eltern daheim sitzen. Wir fragen nach, was das für die Betroffenen bedeutet und wie es jetzt weitergehen kann.

Von Claudia Unterweger

Wer mit einer Behinderung lebt, muss derzeit mit besonderen Hürden fertig werden. Das betrifft laut Behindertenrat immerhin 1,4 Millionen Menschen in Österreich. Lippenlesen trotz Corona-Schutzmasken? Keine Hilfeleistung mehr beim Einsteigen in den Bus? Besuchsverbot in der betreuten WG? Auch die meisten Tagesstrukturen, in denen viele Leute mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen arbeiten, lernen oder sich kreativ beschäftigen können, sind seit 7 Wochen geschlossen.

FM4 Auf Laut: Inklusion in Corona-Zeiten

Welche neuen Hürden stellen sich für dich im Corona-Alltag mit deiner Behinderung? Ruf an und diskutier mit! In FM4 Auf Laut heute Dienstag, ab 21 Uhr: 0800/226996.

„Es ist sehr schwierig ohne unseren Tagesablauf," erzählt mir Rainer Kohlweis vom Verein Jugend am Werk." Normalerweise würden wir jetzt alle in den Tagesstrukturen hackeln.“ Rainer arbeitet üblicherweise in einer Einrichtung für Menschen mit Lernschwierigkeiten und stellt dort Kurskataloge zusammen, gemeinsam mit seiner Kollegin Lucie Vock. Auch für sie liegt der Job fürs Erste auf Eis. „Am Anfang war ich völlig fertig,“ erzählt sie. Sie musste versuchen, allein daheim nicht depressiv zu werden, sich nicht nur mit dem Virus zu beschäftigen. Schwierig, zuhause plötzlich eigenständig den Tag zu gestalten.

Arbeitsplatz und Kontaktpflege

„Die Tagesstruktur ist extrem wichtig als soziales Netz. Dort pflegen unsere Kund*innen ihre Freundschaften und Kontakte. Und es ist ihr Arbeitsplatz. Auch wenn sie kein sozialversicherungsrechtliches Dienstverhältnis haben und keinen Lohn bekommen,“ erklärt Wolfgang Bamberg, Pressesprecher von Jugend am Werk. „Die Personen empfinden das als Arbeit und ihren Beitrag, etwas Sinnvolles zu Tun.“ Übrigens: den Anerkennungsbeitrag (oder das „Taschengeld“, wie viele Personen es selbst nennen) von 30 bis 90 Euro pro Monat haben viele seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen auch nicht mehr ausbezahlt bekommen.

22 Tageseinrichtungen betreibt der Verein Jugend am Werk, 1800 Menschen mit Lernschwierigkeiten werden betreut. Manche bereiten sich auf den Arbeitsmarkt vor, lernen Holzbearbeitung oder stellen Bienenwachstücher her. Andere werden intensiv betreut – und können etwa zum ersten Mal mit technischen Hilfsmitteln kommunizieren, was sie essen möchten oder ob sie jetzt gepflegt werden wollen oder nicht.

Jugend am Werk: Bilder aus Tagesstrukturen und Ausbildungsstätten

Jugend am Werk / Kollektiv Fischka / fischka.com

Daheim ist so eine Betreuung kaum möglich, viele Eltern sind betagt und überfordert, schildert Lucie Vock. Sie ist Werkstättenrat bei Jugend am Werk, viele ihrer Kolleg*innen wenden sich an sie mit Problemen.

Angst davor, seine hart erkämpften Fähigkeiten daheim wieder zu verlernen, hat Stefan Jaindl. Als Rollstuhlfahrer hat er 5 Mal die Woche im Therapiezentrum für Leute mit Cerebralparese trainiert, beim Verein KOMIT in Wien. Seit dem Corona-Lockdown sitzt er in Quarantäne bei seinen Eltern daheim: „Jetzt heißt es durchhalten,“ schmunzelt er trocken. Er vermisst am meisten seine Freunde: „Plaudern kann man auch mit der Familie. Aber irgendwann hat man sich alles erzählt.“

Der Fahrtendienst, das Mittagessen: Alles muss jetzt unter dem Gesichtspunkt der Infektionsgefahr neu organisiert werden. Denn viele Menschen mit Beeinträchtigungen haben Vorerkrankungen und zählen zur Risikogruppe. Ähnlich wie in der Schule wird der Besuch der Betreuungszentren für die Klient*innen daher nur reduziert und tageweise möglich sein. Ab Juni rechnet Wolfgang Bamberg mit einer langsamen Öffnung und einer Art Schichtbetrieb.

Jugend am Werk: Bilder aus Tagesstrukturen und Ausbildungsstätten

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Eine Frage der Prioritäten?

Doch über all diesen Plänen schweben noch viele Fragezeichen. Es herrsche große Verunsicherung unter seinen Kolleg*innen, erzählt Jugend am Werk-Werkstättenrat Rainer Kohlweis. „Raini, bitte sag uns: Wann können wir endlich wieder in die Tagesstruktur kommen?“ ist die am häufigsten gestellte, drängende Frage seit Monaten. Viele Personen mit Lernschwierigkeiten sind verunsichert, halten es zuhause nicht mehr aus, weigern sich, Abstand zu halten. Sie bräuchten klare Information in einfacher Sprache, wie es jetzt weitergeht.

Doch von Seiten der offiziellen Stellen gibt es für Menschen mit Behinderung keine klaren Ansagen. Sie werden nicht eingebunden, schüttelt Rainer Kohlweis den Kopf. „Mich wundert, dass alle Geschäfte wieder offen haben. Aber wir sind wie immer diejenigen, die erst am Schluss dran sind.“

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Heute am Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung diskutieren wir: Welche neuen Hürden stellen sich für dich im Corona-Alltag mit deiner Behinderung?

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