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Stay Alert - Meme

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ROBERT ROTIFER

Tanzt die Todes-Conga!

Der Buffo-Churchill bahnt sich jetzt schon seinen Weg aus der Verantwortung. Und macht die Working Class zum Kanonenfutter der britischen Coronakrise.

Von Robert Rotifer

Ich hatte es schon erwähnt: Lange Spaziergänge durch die Countryside sind mein Überlebenskonzept hier im einschichtigen England, rein seelisch gesehen. Insofern war es nicht so einfach, als uns am Freitag auf dem Weg ins Grüne aus der erst zu durchkreuzenden Bungalow-Siedlung eine charakteristische Stimme entgegenjammerte.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Vor 41 Jahren schrieb Roger Waters für Pink Floyds Rock-Oper „The Wall“ einen Song namens „Vera“, der begann mit der Zeile: „Does anybody here remember Vera Lynn?“

Jetzt, im Jahre 2020, wäre das eine sinnlos provokante Frage, denn Vera Lynn, 103 Jahre alt, ist eine ständige Präsenz, vor allem in Gestalt ihres unsterblichen Kriegsschlagers „We’ll Meet Again“. Dessen optimistische Botschaft begleitete 1964 in Stanley Kubricks „Dr Strangelove“ makaber sarkastisch Bilder sich entfaltender Atompilze.

Heute dagegen wird das Lied wieder unironisch straight konsumiert, als Kulturdenkmal, erinnernd an Großbritanniens finest hour im zweiten Weltkrieg und somit automatisch relevant in dieser, der größten Krise seither. (Wie die Daily Mail ihren Leser*innen neulich mit typischem Scharfblick erklärte, verwenden die Germans weniger Kriegsmetaphern, wenn sie über Covid-19 schreiben, „weil sie den Krieg verloren haben“).

Der Grund, warum wir an jenem Sonnentag am Stadtrand von Canterbury Veras Stimme „but I know we’ll meet again some sunny dayyyyyy“ plärren hörten, war also der 75. Jahrestag des VE Day, bei euch eher bekannt als Tag der Befreiung, im Brexitannien der Corona-Ära neuinterpretiert als patriotischer Festtag ohne Erwähnung anderer Alliierter.

Aus der Lokalzeitung: Keep Calm Celebrate VE Day

Robert Rotifer

aus der Lokalzeitung Kent Messenger

Von weitem her sahen wir schon Gestalten in von Bier entspanntem Habitus auf der Straße stehen und kehrten vorsichtshalber gleich um.
Besser doch an der Schnellstraße entlang gehen, die Route durch die Bungalowsiedlung wäre zu gefährlich gewesen.
Das war also eine der angekündigten Street Parties, die man dann an jenem Abend in den Nachrichten sehen konnte.

Leute, die in Warrington eine Conga tanzen, entlang einem Seil, damit sie zwei Meter Abstand halten, tollend durch den Tröpfchenregen ihres Conga-Schweißes.

Leute, die in Grüppchen herumstehen und dabei den Zweimeter-Begriff bis zum Bersten komprimieren.

Leute, die mit zunehmendem patriotischem Rauschzustand dann doch gleich den Heldentod umarmen.

Sie hatten zwei Tage Zeit zur Ausnüchterung, ehe ihnen am Sonntagabend der Buffo-Churchill auf allen Kanälen begegnete und seine in der Woche zuvor angekündigte Ansprache an die Nation hielt.

Die Boulevard-Medien hatten am Donnerstag bereits die Parole dafür von ihren Titelblättern gebrüllt, ein „Magic Monday“ stünde bevor, ein „Happy Monday“ der Befreiung von den Lockdown-Regeln sollte verkündet werden.

Als Aufwärm-Act wurden die Timelines mit einer neuen Botschaft der Regierung überschwemmt:
Aus „Stay Home – Protect the NHS – Save Lives“ war „Stay Alert – Control the Virus – Save Lives“ geworden, die roten Streifen rundherum waren nun grünen gewichen.

Stay Home - Meme

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Wie es The Who einst so schön in ihrem dystopischen Liedchen „Won’t Get Fooled Again“ sangen:
„And the slogans are replaced overnight“

Stay Alert - Meme

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Kein Wunder, dass auf den Straßen Feierlaune ausgebrochen war. Die Frau eines in der Küstenstadt Whitstable lebenden Freundes war gar von einer feiernden Nachbarin lautstark des elitären Snobismus bezichtigt worden, weil sie einen Bogen um deren lustige Gesellschaft gemacht hatte.

Da saß also nun der Buffo-Churchill in den Prunkräumen der Downing Street, ein prächtiger Kristallluster im Hintergrund, und erklärte „die Form eines Planes“ für die unmittelbare Zukunft, unterstützt von Info-Grafiken. Eine davon definierte die Höhe des nötigen Aufmerksamkeitsgrads als Summe des Infektionsfaktors R plus der geschätzten Zahl der Infizierten.

Wie heute der Journalist Christopher Cook errechnete, ergibt das die Zahl 219.000.

Das ist nun wesentlich mehr als die berühmte, vom Supercomputer in Douglas Adams’ „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ errechnete „answer to life, the universe and everything“, nämlich 42.

Aber die Schlussfolgerung blieb die selbe, nämlich rätselnde Verwirrung.

Doch dankenswerterweise wusste Buffo-Churchill seine Gleichung zu deuten:

Wer von zuhause arbeiten könne, solle weiterhin drinbleiben.
Wer dagegen zur Verrichtung seiner/ihrer Arbeit das Haus verlassen müsse, solle das tun, am besten per Auto oder Fahrrad, weniger gern per öffentlichem Verkehr.
Da aber vielen diese Wahl nicht offen steht, präsentierte sich die Londoner Underground am Montagmorgen wieder proppenvoll.

Das mussten wohl diese unheilbaren Frühaufsteher*innen gewesen sein, die nicht die Morgennachrichten abgewartet hatten, in denen des Buffo-Churchill Vize, Außenminister Dominic Raab eine aufgefrischte Version der Losung ausgab. Demnach sollten die neuen Regeln selbstverständlich erst ab Mittwoch gelten, schließlich werde man das diese im Detail erklärende 50-seitige Papier erst am heutigen Tag veröffentlichen.
Dumm gelaufen für alle, die dem Buffo-Churchill gehorchend bereits in die Arbeit gefahren waren.

(Was er zur weiteren Verwirrung übrigens nicht dazu gesagt hatte: Seine als Premierminister des UK verlautbarte Botschaft gilt eigentlich nur für England. Die von ihm nicht konsultierten Regionalregierungen von Schottland, Wales und Nordirland bleiben weiterhin bei „Stay Home“).

Nun war der Lockdown für die meisten dieser Leute schon von Beginn an bloß ein sogenannter gewesen, schließlich hatte es im Beiblatt zu dem schon vor einem Monat an alle Haushalte verschickten Brief des Premiers an die Bevölkerung unter der Überschrift „Going to work“ geheißen:

„You may travel for work purposes, but only where you cannot work from home. Employers and Employees should discuss their working arrangements.“

Going to Work - Beiblatt zum Brief Boris Johnsons an alle britischen Haushalte

Robert Rotifer

Somit lag es – die bei jener „Diskussion“ herrschenden Machtverhältnisse miteingerechnet – de facto immer im Ermessen des/der Arbeitgeber*in, festzulegen, wer weiter arbeiten gehen muss, während das Firmen-Management zuhause am Laptop sitzt.

Insofern waren Johnsons neue Anweisungen gar nicht so verwirrend gewesen, denn zumindest in diesem entscheidenden Aspekt hat er die Verhältnisse unmissverständlich klargestellt.

„Entscheidend“ bedeutet in diesem Fall durchaus so viel wie entscheidend über Leben oder Tod, das illustrierte das Office of National Statistics heute mit seinen offiziellen Erhebungen.

Während es unter den vom Coronavirus in Großbritannien bis zu doppelt so stark wie Frauen betroffenen Männern derzeit circa zehn Tote pro 100.000 Einwohnern gibt, sind es bei Bauarbeitern nämlich 26 Tote, mehr als unter den ebenfalls hoch gefährdeten Mitarbeitern des Pflege-Sektors.

Noch ein gutes Stück gefährlicher leben Securitys (45 Tote pro 100.000), Taxi- und Busfahrer, sowie Köche. Mitarbeiter*innen des Gesundheitssystems rangieren erstaunlicherweise weit darunter.

Nun gibt es ja allerhand Theorien darüber, warum aus biologischen Gründen Männer von Covid-19 stärker gefährdet zu sein scheinen bzw. wieso die Todesrate unter als BAME (Black & Asian Minority Ethnic) kategorisierten Menschen noch einmal rund doppelt so hoch liegt wie unter weißen Brit*innen.

Die objektiven Ursachen dafür sind wohl noch zu erforschen.

Außer Zweifel steht allerdings, dass die britische Regierung in ihrem Ratschlag ausgerechnet die statistisch am meisten gefährdete Gruppe hinaus in die Arbeit schickt. Bauarbeiter wurden von Dominic Raab heute morgen sogar konkret als einer jener Berufe hervorgehoben, die man zum Arbeiten „ermutigen“ wolle.

Es ist also nicht tendenziös, sondern ganz pragmatisch festzustellen:

Die Blue Collar-Arbeiter*innen, sprich die Working Class, sind das auserwählte Kanonenfutter der britischen Coronakrise. Sie – und die Alten in den Pflegeheimen – sind die, deren Leben weniger zählen als das (vermeintliche) Wohl der Wirtschaft.

Dieses wiederum steht weit über dem der Psyche. Denn während es offenbar sicher genug ist, gemeinsam auf der Baustelle zu schuften, dürfen nach wie vor weder Kinos noch Konzerte besucht werden. Selbst das Treffen von Verwandten, Bekannten oder Geliebten außerhalb des eigenen Haushalts ist nur erlaubt, solange es sich um einzelne Personen handelt und dabei der Mindestabstand von zwei Metern eingehalten bleibt.

Wie der abstrakte, neue Slogan „Stay Alert“ nahelegt, liegt es dabei an uns selbst, ausreichend wachsam zu sein. Wer jetzt noch krank wird, war eben nicht aufmerksam genug.

So wird auch Covid-19, wie in diesem Blog von Jon Alexander erklärt, von einem gesellschaftlichen zu einem individuellen Problem umgedeutet. So bahnt sich ein scheinbar planloser Boris Johnson schon jetzt seinen Weg aus der späteren Verantwortung.

Indessen wird heute die offizielle Opferzahl wohl auf über 32.000 steigen. Und die Festivitäten des VE Day könnten in zwei Wochen bereits eine zweite Welle an Infektionen produzieren, ehe die erste überhaupt verebbt ist.

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