The 1975 und ihr neues Album „Notes On A Conditional Form“
Von Lisa Schneider
Das lange erwartete, neue Album von The 1975 ist da, die Aufregung im Vorfeld war erwartungsgemäß groß. Die vier Briten dürfen sich nachweislich als eine der einflussreichsten und wichtigsten Rockbands unserer Zeit bezeichnen. Das ist für viele unerklärlich, für immer noch einige mehr aber unbestritten. Das Kraut- und Rübenprinzip, genannt Genre-Clashing, haben sie wie aktuell niemand sonst perfektioniert. Die Frage, was eine Gitarrenband kann, darf, oder soll, führen The 1975 beispiellos ad absurdum.
Ihr viertes Album trägt den nicht ganz spezifischen Titel „Notes On A Conditional Form“ und schließt eine Ära ab: „Music For Cars“ nennt die Band die große musikalische Klammer, die sich mit ihren ersten EPs und dem 2013 veröffentlichten Debütalbum geöffnet hat.

Universal
„Notes On A Conditional Form“, das neue Album von The 1975, ist nach einigen Verzögerungen am 22. Mai veröffentlicht worden.
Gefolgt sind 2016 das Breakthrough-Album „I Like It When You Sleep, For You Are So Beautiful Yet So Unaware Of It“ und 2018 schließlich der Meilenstein der Bandgeschichte „A Brief Inquiry Into Online Relationships“. Jedes Album ein Stückchen näher am Weltruhm, hat vor allem letztgenannter Langspieler diesen auch in den USA festgemacht.
Ein Album für die Playlist-Generation
22 Songs, etwa 80 Minuten Spielzeit. Allein der Umfang des neuen Albums ist ein Statement an sich, schreiben The 1975 - sie selbst mittlerweile in ihren frühen 30ern angekommen - immer schon eher Musik für die Generation Playlist. Dem Konzept eines klanglich kohärent verlaufenden Albums haben sich Sänger und Schreiber Matty Healy und seine Kollegen vor allem seit „A Brief Inquiry...“ verweigert. „Notes On A Conditional Form“ lehnt sich jetzt, sofern möglich, noch ein Stückchen weiter aus dem Fenster.
Am Anfang: Ein Weckruf
Der Opener des Albums, der traditonellerweise immer den Titel „1975“ trägt und abgewandelt auch immer derselbe Song ist, ist dieses Mal die nur dezent instrumentierte Vertonung einer Rede der Umweltaktivistin Greta Thunberg. Die Zeilen stammen aus ihrem Vortrag am World Economic Forum 2018, er endet hier mit den Worten „It is time to rebell“. Dass dann gleich darauf die erste Albumsingle, „People“, als Nu-Metal-Wake-Up-Call nur so hineinklatscht, ist eine dramaturgisch gute Wahl.
Matty Healy schreit sich die Seele aus dem Leib. Es ist ungemütlich. Und es bleibt keine Zeit mehr, nur als große, shiny Popstars zu gefallen. Wie Marilyn Manson zu weichen Mainstream-Zeiten erzählt Matty Healy uns wahre Schauergeschichten über den Zustand der Welt. Härtere Gitarren hat man von The 1975 noch nicht gehört; sogar der Montagmorgen wird hier zu einer limitierten Ressource, um die uns noch einmal Leid sein wird.
So weit, so eigentlich in Ordnung, nimmt man seine Verantwortung als vielbesprochener und vielnachgeahmter Musiker ernst.
Erwarte immer das Unerwartete
Was folgt, ist teils erhellend, teils verwirrend, wie etwa eines der orchestral-instrumentalen Interludes namens „The End (Music for Cars)“. Nun wird geschichtet, zusammengeklebt, und das, was mal mehr, mal weniger passt, zusammengeführt: Autotune-gespickter UK-Garage ohne scharfe Instrumentierungen („Frail State Of Mind“), noch mehr cineastisch angelegte Interludes, faule Grooves mit verträumter Atmosphäre („The Birthday Party“), Indierock-Klassik („Then Because She Goes“), cheesy Liebeslieder („Me And You Together Song“) oder Springsteen-Anlehnungen („Jesus Christ 2005 God Bless America“).
Diese Liste lässt sich in - genau - 22 Teilen beliebig erweitern.
Wenn es eine Sache ist, die dieses Konglomerat an musikalischer Weirdness zusammenhält, ist es die polyglotte Lichtgestalt Matty Healy. Auch, wenn er sich selbst nie als solches bezeichnen würde, ist er längst Vorbild seiner Generation: Seine Texte sind auf keinen Fall mit pseudeintellektuellem Größenwahn zu verwechseln. Er liest zwar Rilke, textet aber erfrischend direkt über Neurosen, mental health issues und anxieties aller Art.
Einmal mehr ein Online-Sittenbild
Auch auf „Notes On A Conditional Form“ pflegt Matty Healy nach wie vor die angstgeplagte Introspektive, auch wenn diesmal der abgeschlossene, erzählerische Kontext der Vorgängeralben fehlt. Auf „Notes On A Conditional Form“ gibt es nur noch lose Enden: Es sind Songs über Themen, Situationen oder Gedankenfetzen, alle gedacht für eine eher kurze Aufmerksamkeitsspanne. Keine Urteile, keine Selbstpositionierung, sondern reine Beobachtung. Matty Healy schlüpft von Rolle zu Rolle.
Er ist einmal der seltsame Partygast, der nicht weiß, was er auf dieser Welt eigentlich zu suchen hat („Birthday Party“). Dann ist er ein ehrlich Verliebter, abgekapselt in seinem fast schon zu schönen zwischenmenschlichen Idyll („Me And You Together Song“). Und dann ist er wieder Rockstar, aber reflektiert: „Will I live and die in a band?“ („Playing On My Mind“).
Ein Schritt aus dem Rampenlicht
Auch wenn Matty Healy in Interviews sehr wohl darauf besteht, wie „dope" seine Band ist, steckt er sein Ego auf diesem Album zurück. Offengelegte Verletzlichkeit, verschobene Wertevorstellungen: “I’m just a footprint in the snow“ singt er im gemeinsamen Duett mit Phoebe Bridgers auf „Jesus Christ 2005 God Bless America“. „Life feels like a lie / I need something that’s true“ heißt es auf „Nothing Revealed / Everything Denied“, dem wohl besten Lied der Platte. Das ist es auch deshalb, weil Matty Healy den um ihn aufgebauten Personenkult darin eigenhändig zerstört: „I never fucked in a car / I was lying“ singt er als Referenz an die prominenten Eröffnungszeilen seines größten Songs „Love It If We Made It“. Manchmal ist das Leben eben einfach doch nur fad.
Auch musikalisch sind The 1975 auf „Nothing Revealed / Everything Denied“ ganz bei sich, trotz einer Mischung aus Spoken Word und Gospel, existenzialistischen Fragen und, einmal mehr, Prince. Matty Healy weiß, dass die Popgeschichte eine Geschichte des Borgens ist. Er hat es fast immer gut gemacht.
Die Wiederholung der Wiederholung
Und gerade weil das seit Songs wie „Love Me“ klar ist, ist es schade, dass der größte Hit dieses neuen Albums, „If You’re Too Shy (Let Me Know)“ eine relativ uninnovative Angelegenheit geworden ist. Das alles war schon mal da, in der Disko der Eltern, als Tears For Fears oder, schlimmer noch, Van Halen die großen Kümmerer im Bereich Chartstürmer waren.
Dieses zu ähnliche Zitieren wiederholt sich auf „Notes On A Conditional Form“. So süß und auch schön etwa der erwähnte „You And Me Together Song“ ist, haben nach außen harte, aber innen zarte Punkrockbands wie Blink-182 solche schon geschrieben. In einer Zeit, in der sie zeitgemäß waren. Auch Phoebe Bridgers wirkt solo mit einer anderen Kraft, als am gemeinsamen Song mit Matty Healy.
Die Essenz von The 1975, die natürlich vor allem um die stimmliche Präsenz von Matty Healy kreist, und die die Band gerade am sehr erfolgreichen Vorgängeralbum festgelegt hat, geht auf „Notes On A Conditional Form“ in ihrer Originalität mitunter verloren. Vor allem natürlich auf den Songs, auf denen Matty Healy wenig bis gar nicht zu hören ist (etwa „Shiny Collarbone“, als Gastsänger hört man den jamaikanischen Dancehall-Musiker Cutty Ranks). Es bleibt zu hoffen und anzunehmen, dass Matty Healy das alles genau so weiß, spürt, und geplant hat. The 1975 war nicht nur immer eine Band der Gegensätze. Sondern ebenfalls, wenn auch in milder Form, eine der Überreizung und Provokation.
Viel Wirrwarr, einige Filler, einige gute, starke Momente. Ein Album zur Stunde, zum schnellen, abwechslungsreichen, dem Streamingverhalten angepassten Musikkonsum. Ein Album, das in Inhalt und Form (nach seinem Vorgänger) wie kein zweites die Gegenwart junger Menschen repräsentiert. Unabhängig davon, ob es gut ist, oder nicht. „Notes On A Conditional Form“ wird die Geister einmal mehr scheiden, aber: Gefälligkeit ist nichts, was große Popstars ausmacht. Hält man sich an die Vorfreude und Treue der Fans, wird trotz, oder gerade wegen seiner zerrissenen Schrägheit auch dieses The 1975-Album durch die Decke gehen.
Die letzten Worte hat Matty Healy: „The moment that we started a band / was the best thing that ever happened“ singt er, offenbar mit sich selbst und der Welt versöhnt, am Abschlusssong „Guys“. Tatsächlich, es war (s)ein Glücksgriff.
Publiziert am 22.05.2020