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Einstürzende Neubauten 2020

Mote Sinabel

Nach 13 Jahren: Neues Studioalbum der Einstürzenden Neubauten

Dieses Jahr feiert die legendäre Band aus Berlin ihren vierzigsten Geburtstag. Auf der neuen Platte „Alles in Allem“ äußert sich Sänger Blixa Bargeld so eindeutig politisch wie nie zuvor.

Von David Pfister

Mit ihrer plakativen Art, eine Popmusik auf Misstönen aufzubauen und dafür auch noch Alltagsgegenstände und Müll zu verwenden, konnten die Einstürzenden Neubauten gleich zu Beginn ihres musikalischen Schaffens 1980 nicht übersehen werden. Die deutsche Neigung, eine Popmusik abseits von angloamerikanischen Dogmen zu finden, gab es damals aber schon seit den späten Sechzigern. Kraftwerk, Can, Neu sind von den Neubauten oft zitierte Quellen, nicht primär ästhetisch, sondern in Bezug auf das Trachten, neue Formen und Ausdrucksmöglichkeiten zu finden. Im Unterschied zu den Krautrock-Pionieren waren die Neubauten aber unverschämt sexy und erschreckten mit bedingungslosen Untergangsfantasien, an denen man nicht vorbeisehen konnte.

Der Trick der Neubauten war stets, hinter all dem ohrenbetäubenden Krawall wunderschöne, kleine, zärtliche Momente zu verstecken. Über die vier Jahrzehnte ihrer Bandgeschichte trat dieser Wohlklang immer mehr in den Vordergrund. Was an den Neubauten aber fast noch bemerkenswerter ist als ihre Fähigkeit, eine wirklich neue und autarke Form der musikalischen Sprache zu finden, ist Blixa Bargelds Umgang mit Wort. Schemata aus populären englischen und amerikanischen Liedern verwendet Bargeld nur als bewusste Zitate. Ansonsten muss man seine Art zu schreiben am ehesten zwischen Dadaismus und deutsche Romantik rücken.

„Während ich an der Platte arbeitete, hatte ich nach und nach mehr das Gefühl, das wird immer politischer.“ Blixa Bargeld, Mai 2020

Einstürzende Neubauten 2020

Mote Sinabel

Die neue Platte der Einstürzenden Neubauten „Alles in Allem“ ist am 15. Mai 2020 erschienen. Alle für dieses Jahr geplanten Konzerttermine wurden auf nächstes Jahr verschoben.

Beim ersten Blick auf das neue Neubauten-Album „Alles in Allem“ springt einen das Thema Berlin an. Gleich vier Lieder beziehen sich im Titel auf Berliner Ortschaften (Grazer Damm, Wedding, Tempelhof, Am Landwehrkanal). Besonders der gewollte Rio-Reiser-Moment im folkloristischen „Am Landwehrkanal“ hantiert mit einer grellen Berlin-Fassade und dürfte den Neubauten diebische Freude bereitet haben. Und auch wenn das Lied stilistisch ein verschmitztes Nicken in Richtung der Band Ton, Steine, Scherben ist, wird hier eigentlich Rosa Luxemburg besungen. Die berühmte Vertreterin der europäischen Arbeiterbewegung, Anti-Militaristin und Marxistin wurde 1919 von deutschen Freikorpssoldaten misshandelt und ermordet. Ihre Leiche wurde in den Berliner Landwehrkanal geworfen.

Zivilisatorisches Missgeschick

„Da wo wir landen, wenn wir landen, Land gewinnen 
allein, zu zweit, zu vielen, wie erwartet, wieder warten. 
Was wir in deinen Träumen suchen? Wir suchen nichts.
 Wir warten, wir warten. Irgendwo müssen wir ja warten“. (Aus dem Lied „Taschen“)

Einstürzende Neubauten 2020

Mote Sinabel

Zu Beginn ihrer Karriere argumentierten die Neubauten den Gebrauch von Einkaufswagen und Baustellenmaterialien noch gerne mit ökonomischen Gründen, inzwischen ist das Spielen von Gegenständen aber dem Streben geschuldet, den Liedern eine gewisse Transzendenz zu impfen. Blixa Bargeld meint, es geht dabei sehr wenig um den tatsächlichen Klang, sondern darum „eine Strategie zu finden, um die Dinge auf irgendeine Art und Weise zum Sprechen zu bringen, damit sie etwas weggeben“.

Diese Metaphysik der Dinge gipfelt auf der neuen Platte in dem Lied „Taschen“, für das die Neubauten Lumpen in alte Reisetaschen stopften und damit musizierten. Das Lied selbst thematisiert das Ertrinken Geflüchteter auf dem Weg nach Europa. Flucht und Emigration taucht als Thema auch auf der ersten Single des Albums namens „Ten Grand Goldie“ auf, mit einer Direktheit, wie man sie von den Einstürzenden Neubauten nicht gewohnt ist, mit der die Band aber souverän umgeht und die für eine Agilität sorgt, die man von einer vierzigjährigen Musikgruppe nicht erwarten würde.

„Meine Texte sind nie besonders verständlich gewesen, weil ich sie auch immer benutzt habe, um eine Distanz zu halten. Wie ein Brett. Nun sind sie wesentlich zugänglicher. Das habe ich nicht geplant, das ist passiert." Blixa Bargeld, Mai 2020

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Der Titeltrack „Alles in Allem“ als FM4 Song zum Sonntag.

Es gibt keine schlechten Neubauten-Alben, aber dieses neue ist besonders gut, indem es eine neue Perspektive mit den alten Stärken der Band bündelt. Besonders reizvoll ist es, wenn sich die Band alter eigener Lieder und Traditionen besinnt, diese zitiert, weiterspinnt und sie inhaltlich und musikalisch neudeutet. Das Album „Alles In Allem“ kommentiert in Form surrealistischer Politsongs deutsche, europäische Befindlichkeiten und markiert sogar zufällig den Moment, als die Coronavirus-Krise an unserer Zivilisation kratzte. Der Titel „Zivilisatorisches Missgeschick“ wirkt wie eine prophetische Exegese auf das Covid-19-Schlamassel.

„Ich wollte das Album jetzt draußen haben und öffentlich machen und bin auch sehr glücklich mit dem Album. Ich war natürlich immer happy mit allen Neubauten-Veröffentlichungen, aber ich bin mehr glücklich mit diesem Album als mit irgendeinem Album vorher.“ Blixa Bargeld, Mai 2020

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