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Charli XCX

Charli XCX: Pop entsteht im Zoom-Meeting

Wie klingt Corona-Pop? Die britische Sängerin Charli XCX hat ihr neues Album innerhalb eines Monats in Quarantäne produziert und ihre Fans waren in Video-Konferenzen dabei. „how I’m feeling now“ ist die perfekte Musik für die aktuelle Zeit.

Von Johann Voigt

Wir leben gerade in einer „In Zeiten von …“-Zeit. Auch Pop-Musik muss es sich gefallen lassen, in den Kontext einer globalen Pandemie gestellt zu werden. Die britische Sängerin Charli XCX geht mit, spielt damit. Auf eine positive Art und Weise. Während sie in Quarantäne war, hat sie innerhalb eines Monats ihr neues Album „how I’m feeling now“ aufgenommen. Nicht als Statement für Selbstoptimierung im Sinne von „Wir müssen die Zeit jetzt SINNVOLL nutzen,“ sondern als inklusives, interaktives Projekt, das in Zusammenarbeit mit ihren Fans entstanden ist. Ihr Album ist auf mehreren Ebenen sehr gelungen und es zeigt, wie ein kreativer Bruch mit der Rolle des Stars funktionieren kann.

Am 6.4.2020 sitzen 1000 Menschen gespannt vor ihren Laptops und Handys. Sie sind in einem Zoom Meeting und es geht dabei weder um Home-Schooling noch um Online-Uni. Charli XCX hat ihre Fans in ihr „Home-Office“ eingeladen, um ein neues Album anzukündigen. „Ich möchte den ganzen Prozess mit den Leuten teilen,“ sagt sie und wird ihr Versprechen halten. In den nächsten Wochen lädt sie immer wieder zu Zoom-Meetings ein, spricht mit Fans über Musik, Videos, Artworks, aber auch über ihre Befindlichkeiten, über Beziehungen und darüber, was es gerade zu essen gab. Die Treffen sind ein intimer Raum, in dem sich alle gegenseitig supporten. Fans können Charli XCX so nah sein wie selten. Charli XCX bekommt Input, obwohl sie sich isoliert mit ihrem Partner zuhause aufhält. Es ist eine Win-Win-Situation.

Das Resultat: „how I’m feeling now“. Der entspannte Umgang mit Musik schwingt mit. Es ist ein Album voller Experimente im Sound, das inhaltlich bodenständig bleibt. Es ist kein Versuch der großen Analyse der aktuellen Probleme. Es ist ein realistisches Abbild der Gefühlszustände junger Menschen, die sich um vieles sorgen, aber eben auch darum, ob ihre Beziehung die Pandemie überstehen wird, warum sie sinnlos online shoppen und wann sie wieder tanzen gehen können. Man könnte das naiv nennen. Aber auch den Wunsch nach: „I just wanna go real hard, I just wanna go real hard“ muss man eben ernst nehmen.

Charli XCX ist eine Künstlerin, die sich in einer Zwischenwelt zwischen den ganz großen Pop-Gesten und gebrochenen Sounds, die sich in Nischen der elektronischen Musik abspielen, bewegt. „how I’m feeling now“ wurde zu einem großen Teil von A. G. Cook produziert. Er ist Gründer und Kopf hinter dem Label PC Music. Dort wurde vor allem komplett überdrehter Pop veröffentlicht, der im positiven Sinne so überinszeniert und produziert, so knallbunt war, dass er nur in einer Nische funktionieren konnte, weil er „Mainstream-Sound“ bis zur Unhörbarkeit überreizt. Charli XCX greift auf ihrem Album nun diesen Sound auf und transportiert ihn tatsächlich in den Mainstream. Dazu kommen die immer düsteren Sounds, die in den letzten Jahren vor allem von Künstler*innen wie Coucou Chloe oder Shygirl aus dem Nuxxe-Label-Umfeld geprägt wurden.

Bei Charlie XCX kommt all das zusammen: Gebrochene Beats, Distortion und Rauschen, das sich mit ganz süßlich anklingenden Synths abwechselt und am Ende sogar ein Hardstyle-Beat in dem Song „visions“. Charli XCXs Stimme doppelt sich, wird gecuttet, neu zusammengesetzt, wird in ganz schrille Höhen gepitcht und dann wieder runter. Das Überdrehte und die Aggression wechseln sich ab und spiegeln damit perfekt das emotionale Auf und Ab in der Selbstisolation der letzten Wochen.

„how I’m feeling now“ ist also nicht nur ein interaktives Mitmach-Experiment. Es wirft auch die Frage auf, wie viel Sperrigkeit und wie viele Experimente der Pop-Mainstream eigentlich verträgt. Die Antwort: Mehr, als viele glauben. Vor allem aber schafft das Album, bei dem man die Zoom-Calls unbedingt als Teil der Performance mitdenken muss, eine maximale Gegenwärtigkeit. Charli XCX hat ein extrem gut produziertes Zeitdokument geschaffen, das „in Zeiten von …“ schon allein dadurch reflektiert, dass es die Mittel, die „in Zeiten von …“ plötzlich relevant geworden sind in den künstlerischen Prozess involviert hat. Es funktioniert aber gleichzeitig auch einfach als Soundtrack für eine Party mit sich selbst in Selbstisolation.

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