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Mit Akzent: Das Gute und das Böse

Todors Freundin K verliert beim Kochen den Glauben an das Gute im Menschen.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

Die Pandemie führt zu zwei Arten moralischer Entwicklung: Laut der ersten werden sich die Menschen immer mehr wie Wölfe zueinander verhalten, da die allgemeinen Güter, die verteilt werden, langsam aber sicher knapp werden. Laut der zweiten Strömung werden sich die Menschen ihrer Nichtigkeit im Weltgeschehen bewusst und rücken immer enger zusammen. Die ersten kauften sich zur Beginn der Krise Waffen und Munition und warten darauf, davon Gebrauch zu nehmen. Die zweiten singen und klatschen aus ihren Fenstern und Balkonen, um diverse Anliegen zu unterstützen.

In der nächsten Geschichte sieht man wie sich die beiden Typen treffen.

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Mit Akzent: Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Alle Folgen der Kolumne gibt es hier als Podcast.

K wollte ihrer Mutter zeigen, dass sie ein eigenständiger Mensch ist und alleine im Leben zurechtkommt. Sie zog aus der elterlichen Wohnung aus, kurz bevor der Ausnahmezustand verkündet wurde. Sie lebte in Isolation und fühlte auf Facebook mit allen Kranken mit. Ihre Mutter traf sie nur online. Mit der Aufhebung der Maßnahmen freuten sich die beiden, sich endlich wiederzusehen. K lud ihre Mutter nachhause ein und wollte ihre Lieblingsspeise kochen – Weinblattsarma. Dieses Rezept ist typisch für die Balkanhalbinsel und besteht aus gerollten Weintraubenblättern, gefüllt mit Reis und Faschiertem mit duftenden Gewürzen. Eine kleine Sarma soll normalerweise aus einem einzigen Bissen bestehen. Sie dachte sich, dass ein Mensch, wenn er die Nerven hat, hundert Weinblätter zu winzigen Sarmas zu rollen, zu hundert Prozent einen vertrauenswürdigen Eindruck erweckt. Sie brauchte nur Weinblätter.

Es gibt zwei Arten von Weinblättern: Die ersten findet man eingemacht im Supermarkt. Die zweiten, die Profiköche bevorzugen, sind frisch vom Markt. K wählte den zweiten Weg, da er schwieriger und würdevoller ist.

Am Markt herrschte der übliche Lärm, die Verkäufer priesen ihre Ware an. Ihre Stimmen wurden von den Masken gedämpft und sie fühlte sich verpflichtet, noch lauter zu schreien. Nur ein Opa saß mit gesenktem Kopf in einer Ecke. Er saß auf einer Plastikkiste und seine Ware – frische Weinblätter - hatte er am Boden ausgestellt. K war von seinem Stoizismus und seiner Ruhe beeindruckt. Er sah zu Boden und hob seinen Kopf nicht. Unter seiner Maske hörte man keinen einzigen Laut. Die Weinblätter waren mit Schuhbändern zusammengebunden. Der Mann war nicht da, um Gewinn zu machen, sondern um überhaupt irgendwas zu verdienen. Man sah ihm an, dass er in Armut lebt. K sah in ihm eine verwandte Seele, wonach sie auch gesucht hatte. Sie nahm sich vier Bündel mit Weintraubenblättern, obwohl sie nur zwei brauchte, denn ihr Kauf sollte auch ein sozialer Effekt haben. Der alte Mann segnete sie mit Dankbarkeit und nahm ihr Geld.

K kam nach Hause, stolz, dass die frische Weintraubenblätter gefunden hatte und noch stolzer, dass sie dem armen Mann geholfen hatte. Sie fing zu kochen an. Sie briet das Fleisch und gab den Reis dazu, danach die Gewürze. Sie kam zu dem Moment, wo sie die Mischung in die Blätter füllen sollte. Sie nahm die Rollen von dem alten Mann. Es stellte sich heraus, dass sie keine Weinblätter gekauft hatte, sondern ganz gewöhnliche Baumblätter, gepflückt von einem Ahorn im Park nebenan. K war betrogen worden. Es war alles ein Trick, auch das mit den Schuhbändern. Der Glaube an das Gute im Menschen war tot. Sie lief überstürzt zum Markt, um den alten Mann zu suchen, der ihre unschuldige Seele verwundet hatte. Er war natürlich nicht da. An seiner Stelle standen nur zwei leere Plastikkisten. Eine davon war umgedreht. Wie Yin und Yang. Wie das Gute und das Böse. K machte sich auf dem Weg zum Supermarkt, um eingemachte Weintraubenblätter zu kaufen. Das Leben ging weiter.

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