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Born in the NHS Flugblatt

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Covid 19 in UK: Wenn NHS für Native Health Service steht

Es heißt, die heldenhafte Aufopferung der vielen Immigrant*innen im britischen Gesundheits- und Pflegesystem würde selbst noch die letzten Rassist*innen beschämen und zum Umdenken bringen. Nicht, wenn’s nach Boris Johnson geht.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Heute Abend werden wir wieder klatschen, wie man das hierzulande nur wöchentlich tut (Wird in Österreich eigentlich geklatscht? Wie immer bleibt das Ziehen von Parallelen zwischen eurem Erleben und meinem hier in Großbritannien euch selbst überlassen).

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Wie jeden Donnerstagabend werde ich dabei die Straße runterschauen und auch die Leute klatschen sehen, von denen ich weiß, dass sie jene Zeitungen lesen, die immer auf die Einwander*innen, aber auch die vermeintlich gierigen Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen bzw. den ganzen Wohlfahrtstaat loszugehen pflegen (ich weiß das, schließlich war mein Sohn jahrelang ihr paper boy und nein, er warf die Zeitung nicht so wie im amerikanischen Film, sondern steckte sie in den Briefschlitz, das ist hier schließlich England, wie wir nie Gelegenheit haben zu vergessen).

Was man hier in letzter Zeit oft zu hören kriegt, gestern erst sagte es der DrillMinister im Interview mit Channel Four: Selbst der größte Rassist im Land sei dieser Tage wohl gezwungen, seine Vorurteile zu überdenken, angesichts der vielbewunderten Aufopferung der Zigtausenden Einwander*innen im Gesundheits- und Pflegesystem, die für die alternde indigene Bevölkerung ihr Leben riskieren.

Aber ich fürchte, der DrillMinister macht sich da was vor.

Heute ist wieder ein blauer Zettel aus meiner Zeitung gefallen, da steht - offensichtlich in Anspielung auf Bruce Springsteens „Born in the USA“ - „Born in the NHS“ drauf, also „geboren im nationalen Gesundheitssystem“. Auf der Rückseite wird angeboten, ein T-Shirt mit demselben Slogan zu kaufen und dabei 5 Pfund für Mitarbeiter*innen des Gesundheits- und Pflegesektors zu spenden.

Die Idee kommt von der beliebten T-Shirt-Designwerkstätte PhilosophyFootball, die sich sonst, wie ihr Name schon sagt, auf das Crossover von Philosoph*innen- und Fußball-Verehrung spezialisiert, und sie ist ein Musterbeispiel für Popkultur, die unwissentlich mehr sagt, als sie beabsichtigt. Über den Moment und die Gesellschaft, in der sich jener ereignet.

Wie oft haben wir Erklärungen zum Missverständnis „Born in the USA“ gelesen, dieses gern als patriotischer Schlachtruf missbrauchten Songs, der ja eigentlich davon erzählt, wie seine Hauptfigur von jenem Land, mit dem sie sich identifiziert, missbraucht, verheizt und im Stich gelassen wird.

Aber so wie Springsteens Lied bleibt auch das von ihm inspirierte T-Shirt am Ende doch ein nativistisches Statement, weil es letztlich – selbst im Zorn – nur die vereinen kann, die den Slogan aus eigener Erfahrung mitgrölen oder auf der Brust tragen können.

Born in the NHS Flugblatt

Robert Rotifer

Ich hab vor genau einem Monat hier schon einen Blog darüber geschrieben, wie das NHS in der Coronakrise eine Neudeutung von einem Symbol des sozialdemokratischen Nachkriegswohlfahrstaats zum nationalen Mythos erfahren hat.

Eine der damit verbundenen Parolen ist, dass dieses aus Steuern bzw. den National-Insurance-Beiträgen finanzierte, allen zugängliche Gesundheitssystem „free at the point of use“ sei. Egal, ob du Einkommensteuer zahlst oder nicht, der/die Doktor*in ist gratis.

Ihr hört erfahrungsgemäß aus dem Nebenzimmer ein dickes, fettes "Es sei denn“ hereinrollen, und hier ist es auch schon:

Es sei denn, du bist nicht „Born in the NHS“, hast also keinen britischen Pass oder unbefristete Aufenthaltsgenehmigung (wie etwa ich mit meinem Settled Status oder EU-Einwander*innen bis Ende dieses Jahres, ist eine andere Geschichte). Dann nämlich darfst du die „NHS Surcharge“ bezahlen, die angeblich zur Vermeidung des Phänomens des „Gesundheitstourismus“ dient, der aber in Wahrheit, wenn überhaupt, in umgekehrter Richtung, nämlich aus Großbritannien in Richtung anderer europäischer Länder verläuft (zumindest bis zum Ende der Brexit-Übergangsfrist).

So oder so reicht es als Ausrede für einen Aufpreis von 400 Pfund pro Jahr, der im Oktober, weil die Betroffenen eh keine andere Wahl haben, einfach so auf 624 Pfund (685 Euro) erhöht werden wird. Und zwar pro Nase, bei einer vierköpfigen Familie etwa summiert sich das dann zu 2.496 Pfund (2.753 Euro) pro Jahr.

Dazu kommen noch Visumskosten von 1.033 Pfund alle zweieinhalb Jahre pro eingewanderter Person, gekrönt von einer Zahlung von 2.389 Pfund für die vierte Tranche als Preis für die unbefristete Aufenthaltsbewilligung, alles in allem für erwähnte vierköpfige Familie über zehn Jahre laut Schätzung der Pressure Group Migrant Voice etwa 50.000 Pfund (55.000 Euro), und zwar zusätzlich zu Steuer und Sozialversicherung, wie sie Leute zahlen, die von Geburt zum Tragen von Born in the NHS-T-Shirts qualifiziert sind.

Die eigentliche Chuzpe allerdings kommt erst: Verrechnet wird die NHS Surcharge nämlich auch jenen Zehntausenden Eingewanderten, die selbst im NHS und im Pflegesektor arbeiten. Genau jenen also, die mitten in der Desasterzone Großbritannien (Todesziffer offiziell bereits jenseits 35.000) unter ihrer notdürftig zusammengestoppelten Schutzkleidung schwitzen, und denen wir heute Abend wieder eifrig zuklatschen werden.

Das, würde man meinen, ist nun genau der Punkt, wo sich die Theorie der bekehrten Alltagsrassist*innen auf die Probe stellen ließe.

Ich darf das Beispiel eines Mannes anführen, der selbst Wochen in der Intensivstation verbrachte und dort von eingewanderten Krankenpfleger*innen gepflegt wurde. Er heißt Boris Johnson, und gestern im Unterhaus stellte ihm der Labour-Chef Keir Starmer folgende Frage:

„Hält der Premierminister es für richtig, dass Pflegearbeiter*innen aus dem Ausland, die an unserer Front arbeiten, einen Aufschlag von Hunderten, manchmal Tausenden Pfund zahlen müssen, um selbst das NHS zu verwenden?“

Er habe ausführlich darüber nachgedacht, sagte der Premierminister und habe Verständnis für die Schwierigkeiten, mit denen sich unsere amazing NHS-Belegschaft konfrontiert sehe, in der Tat habe er selbst die Pflege von Menschen genossen, die aus anderen Ländern hierhergekommen seien und „ganz ehrlich gesagt mein Leben gerettet haben. Andererseits müssten wir uns die Realitäten ansehen, dass [das NHS] ein großer nationaler Dienst ist, es ist eine nationale Institution, die der Finanzierung bedarf. [...] Also bei großem Respekt für den Punkt, den er macht, glaube ich, dass das der richtige Weg voran ist.“

Man kennt ihn ja und würde von ihm keine Spur von Scham oder Anstand erwarten. Man weiß, dass er in jeder Situation irgendwie die nationalistische Karte spielen wird, aber es verblüfft dann irgendwie doch jedesmal von Neuem.

Kenner*innen der englischen Sprechweisen wissen jedenfalls, wann immer „großer Respekt“ beschworen wird, dient das ausnahmslos der Rechtfertigung einer ganz, ganz bodenlosen Respektlosigkeit, in diesem Fall gegenüber den verschaukelten Nichtbrit*innen im NHS.

Held*innen, jede*r einzelne von ihnen. Aber bitte zahlen, falls am falschen Ort geboren.

Klatschen kann, wie wir wissen, auch als Geste der Verhöhnung verstanden werden.

NHS Plakat mit Koran-Zitat am Eingang einer Moschee in Kentish Town

Robert Rotifer

Ein Transparent als muslimischer Tribut an das NHS auf einer Moschee in West Kentish Town, London

Aber ich will nicht unfair sein gegenüber dem britischen Staat. Eines seiner Angebote ist das sogenannte „bereavement scheme“ („Trauerfallsplan“), das Angehörigen von ausländischen Mitarbeiter*innen des NHS, die selbst Covid-19 zum Opfer fallen, zum Trost für ihren Verlust die unbefristete Aufenthaltsbewilligung in jenem Land anbietet, für das ihr*e Verwandte*r sein Leben gelassen hat. Und nach langer Überlegung hat sich gestern Innenministerin Priti Patel auf Druck der Opposition und der Gewerkschaften dazu durchgerungen, dieses Privileg auch den Angehörigen von Pflegearbeiter*innen, Putz- und anderen niedrig bezahlten Arbeitskräften im Gesundheits- und Pflegesektor zuzugestehen.

Hier also zeigt das Land sein großes Herz, wenngleich erst nach dem Held*innentod.

Update am selben Abend: Da geht man eine Runde spazieren, kommt heim und stellt fest, dass Boris Johnson in diesem Fall einmal nachgeben musste. Freut mich, dass diese Geschichte so schnell veraltet ist (nicht im Pflege- und Gesundheitssektor arbeitende Einwander*innen zahlen den Zuschlag allerdings noch immer).

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