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Dominic Cummings steigt in sein Auto, bedrängt von Journalist*innen

APA/AFP/Isabel Infantes

robert rotifer

„Instinkte jedes Vaters“

Wie jeder Werbetexter sieht er keinen Grund dafür, sich an seine eigenen Slogans zu halten. Der Fall des unkündbaren Mr Cummings als britisches Sittenbild.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ich habe gerade eine Pressekonferenz eines britischen Premierministers gesehen.

Dieser Mann - ich nenne ihn den Buffo-Churchill, obwohl er eigentlich schon lange nicht mehr lustig ist - erklärte uns, ein anderer Mann habe den „Instinkten jedes Vaters“ gehorcht und sich „verantwortlich, ehrenhaft und rechtmäßig“ verhalten, als er im April alle Regeln des Lock-down brach und mit Frau und Kind im Auto den Covid-19-Virus quer durchs Land spazieren führte.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Jener Instinkt-Vater habe dies nämlich nicht bloß „im Interesse der Kontrolle des Virus“ getan, sondern „um Leben zu retten“.

Der Buffo-Churchill sagte das nicht einmal, sondern immer wieder, in blankem Widerspruch zu allem, was er uns seit Monaten predigt.

Niemand glaubt ihm.

Es ist körperlich unmöglich, ihm zu glauben.

In Fremdscham und Eigenscham zugleich vergisst ein Land auf seine Vorsätze, das eigene Gesicht nicht zu berühren, und massiert unter ungläubigem Kopfschütteln mit Zeigefinger und Daumen seinen kollektiven Nasenrücken.

Boris Johnson wird die ganze Hilfe seiner Freund*innen in den Medien brauchen, um sich aus dieser absurden, unfassbaren Farce wieder herauszuschrauben.

Vielleicht kriegt er die auch, aller Logik und allen Fakten zum Trotz.

Aber da ihr nicht in Großbritannien lebt, sollte ich hier wohl von vorn anfangen.

Ich hab sie noch in Erinnerung, die dunkle Frauenstimme in mundfaulem Tonfall irgendwo zwischen blasiert, vornehm oder einfach nur erschöpft von einer vor kurzem überwundenen Coronavirus-Erkrankung.

Sie erzählte uns, wie warmherzig und gütig ihr Mann sei. Etwas, das die von seiner Karikatur fehlgeleitete Öffentlichkeit nicht ahne.

Diese Frau nämlich war Mary Wakefield, Kolumnistin und Redakteurin bei der erzkonservativen Wochenzeitung The Spectator, verheiratet mit Dominic Cummings, dem berüchtigten, von Benedict Cumberbatch im Film Brexit – The Uncivil War als grenzautistisches Propaganda-Genie glorifizierten Mastermind der Leave-Kampagne bzw. „Senior Adviser“ in Boris Johnsons Kabinett.

Als solcher ist Cummings umstrittener Teilnehmer des SAGE-Komitees (steht für Scientific Advisory Group for Emergencies, ausgesprochen wie das englische Wort für „weise“), das die Regierung über den wissenschaftlichen Standpunkt zum richtigen Vorgehen in der Coronavirus-Krise berät.

Seine nichtwissenschaftliche Präsenz in diesem theoretisch unpolitischen Gremium wurde bisher damit begründet, dass er dem Premierminister von den Beratungen berichten und sein Talent für griffige Drei-Worte-Mottos einbringen solle, die die Öffentlichkeit versteht. So wie die ihm (fälschlich!) zugeschriebene Brexit-Parole „Take Back Control“ oder der Wahlkampf-Heuler „Get Brexit Done“.

Cummings also stand direkt hinter den offiziellen Parolen „Stay Home – Protect The NHS – Save Lives“ und deren aktueller schwammiger Abwandlung „Stay Alert - Control the Virus – Save Lives.“

Wie jeder Werbetexter sieht er keinen Grund dafür, sich an seine eigenen Slogans zu halten.

Und wie seine Slogans hält der erste Eindruck, den er macht, einer genaueren Betrachtung nicht lange stand.

Er geht in Jogginghose, T-Shirt und Kapuzensweater in der Downing Street ein und aus, natürlich mit Kaffeebecher, ein Bild der nachlässigen Volkstümlichkeit, und es stimmt schon, er war zwar in Oxford an der Uni, aber er verachtet die Eliten. So sehr, dass er eine aus ihren Kreisen geheiratet hat.

Mary Wakefields Vater heißt tatsächlich Sir Humphry, ihre Mutter Katherine wiederum ist die Tochter von Evelyn Baring, der während der brutalen Niederschlagung der Mau-Mau-Rebellion in den Fünfzigerjahren der britische Gouverneur von Kenia war. Der Wakefields Familiensitz heißt Chillingham Castle, weil er eine echte Spukburg ist, und nein, ich erwähne das nicht aus Gründen von Class-Shaming oder Sippenhaftung, Wohnverhältnisse werden im Verlauf dieser Geschichte noch eine Rolle spielen.

Marys Stimme also hörte ich an jenem Morgen im Radio, denn sie war von der BBC-Nachrichtensendung Today eingeladen worden, eine Art Audioversion ihres im Spectator veröffentlichten Coronavirus-Tagebuchs zu geben.

Darüber, wie Dominic und sie selbst an Covid-19 erkrankt waren und gemeinsam mit ihrem gemeinsamen vierjährigen Kind, das keine Symptome zeigte, in Isolation diese schwierige Zeit durchgemacht hätten.

Es war fast anzunehmen, dass Dominic sich das Virus von seinem Chef geholt haben musste, schließlich hatte jener sich ja noch Ende März damit gebrüstet, Jesus-gleich die Hände der Kranken geschüttelt zu haben. Aber Mary war ihm nicht böse, im Gegenteil, sie sei, sagte sie, auf die Knie gegangen, um für den ebenfalls erkrankten Boris zu beten.

Doch sie hatte auch einen praktischen Ratschlag für kranke Eltern, die ein Kleinkind zu betreuen haben. Man solle das Kind doch Doktor spielen, sich etwa von ihm das Fieber messen lassen. Das sei eine gute Beschäftigung.

In Wahrheit hatte die Familie Cummings-Wakefield aber noch ganz andere Strategien zur Kinderbetreuung parat, die in Mary Wakefields Beschreibung – vermutlich aus reinen Zeitgründen – nicht vorkamen.

Denn wie der Guardian und der Daily Mirror am Freitagabend enthüllen konnten, waren sie zum beschriebenen Zeitpunkt gar nicht zu Hause in Nordlondon, sondern 425 Kilometer nördlich davon in Dominics Geburtsstadt Durham bei seinen Eltern geweilt. Das warf ein paar Fragen auf:

Wie ließ sich ihre Reise dorthin mit dem damals ganz eindeutig gültigen, von Cummings selbst abgesegneten, von Boris Johnson, Minister*innen und Expert*innen tausendfach wiederholten Motto „Stay home“ vereinbaren?

Wenn Cummings tatsächlich so krank war wie von seiner Frau berichtet, wie konnte er sie, das Kind und sich selbst mit dem Auto in den Norden fahren, um dort entgegen der dringlichen Anweisung Verwandte aus der Risikogruppe über 70 zu besuchen?

Hatte Gesundheitsminister Matt Hancock nicht erst vor wenigen Tagen im Fernsehen gesagt, man dürfe selbst unter dem neuen, entspannteren Regime höchstens einen Elternteil und den dann nur mit zwei Metern Abstand treffen, und als Schauplatz käme dafür nur ein öffentlicher Ort unter freiem Himmel, ganz konkret kein privater Hinter- oder Vorgarten in Frage?

Wie passte das damit zusammen, dass Cummings in Durham von einem Nachbarn beobachtet wurde, wie er im Garten der Eltern mit dem Kind zu lauter ABBA-Musik tanzte?

Kaum war all das an die Öffentlichkeit gedrungen, feuerte die BBC-Politikredakteurin Laura Kuenssberg einen Antwort-Tweet an die Mirror-Reporterin Pippa Crerar ab:

„Quelle sagt, seine Reise war innerhalb der Richtlinien, da Cummings zu seinen Eltern fuhr, damit die mit Kinderbetreuung helfen könnten, während er und seine Frau krank waren – sie bestehen darauf: kein Bruch des Lock-down.“

Das war schon von der Form her amüsant, ist doch „Quelle“ also „Source“ in der Kremlinologie der BBC das gängige Kürzel für Cummings selbst. Und wie gesagt, das Besuchen von Eltern zur Kinderbetreuung war, wie für jeden außer „Source“ und Kuenssberg sofort ersichtlich, genau das Problem, schließlich hatte man der Bevölkerung ja genau das neun Wochen lang verboten.

Und schließlich hatte, wie hier berichtet, Anfang April die schottische Chief Medical Officer Catherine Calderwood zurücktreten müssen, weil sie entgegen derselben Regeln ihr Wochenendhaus besucht hatte – genau zu jener Zeit, als Cummings zu Besuch in Durham war.

Ganz zu schweigen von Professor Neil Ferguson, dessen Studien für das Imperial College die Regierung vom Lock-down überzeugt hatten. Er musste Anfang Mai vom SAGE-Komitee zurücktreten, weil seine Geliebte ihn (14 Tage nach seiner eigenen Genesung) zuhause besucht hatte.

Am Samstagmorgen jedenfalls hörte ich Kuenssberg im Today Programme eine neue Version der ihr von der „Quelle“ übermittelten Verteidigungslinie vortragen:

Cummings Kritiker*innen, sagte sie, versuchten diese Geschichte als Entschuldigung dafür zu verwenden, auf ihn hinzutreten („to put the boot in“), dabei habe er - entgegen ihres Tweets vom Abend zuvor - gar nicht seine Eltern, sondern seine ebenfalls am Familiensitz weilende Schwester getroffen und sich nur „in einem anderen Gebäude auf demselben Grundstück aufgehalten.“

Da schlugen sich Millionen Brit*innen zuhause auf die Stirn.

Aber natürlich, klar doch: Warum waren wir nicht alle auf die Idee gekommen? Was hätten sich meine Nachbarn alles an Kummer erspart, die ihre demente Tante seit zwei Monaten nicht besuchen konnten, wenn sie sie einfach in ihrem Jagdschlössel oder vielleicht im Kutscherhaus untergebracht hätten?

Es ist eine alte Regel der britischen Klassengesellschaft, dass für Leute, deren Eltern mehrere Häuser auf demselben Grundstück besetzen, andere Gesetze gelten. Man sagt zu ihnen „landed gentry“ und weiß, sich nicht zu beschweren. Ist schließlich immer noch eine Monarchie hier.

Das Problem ist allerdings, dass diese über allen gewöhnlich Sterblichen stehende Ausnahmestellung, auf die sich Dominic Cummings und Mary Wakefield so ganz natürlich und bedenkenlos beriefen, rein gar nicht mit der oben beschriebenen Fiktion von Cummings als rechter Regierungs-Moby und nationalanarchistischer Eliten-Basher zusammengeht.

Deshalb warf sich gestern das halbe Regierungskabinett auf Twitter, um Cummings als einen Menschen wie du und ich zu verteidigen. Von Schatzkanzler Rishi Sunak über Außenminister Dominic Raab und – besonders pikant – die direkt für die Einhaltung der Lock-down-Regeln mitverantwortliche oberste Staatsanwältin Suella Braverman bis hin zum Chancellor of the Duchy of Lancaster (ein Bullshit-Job) Michael Gove, der schrieb:

„Sich um seine Frau und sein Kind zu kümmern, ist kein Verbrechen.“

Was, wie die Tweeterin Alex Clark im Gleichklang mit Tausenden anderen so schön feststellte, per Umkehrschluss bedeutet, dass wir alle, die wir uns an die Regeln hielten, einfach „herzlose Bastarde“ gewesen sein müssten.

All jene Menschen, die ihre schwer erkrankten Verwandten nicht besuchen, ja nicht einmal zu den Begräbnissen verstorbener Angehöriger gehen durften, wurden nun nicht nur durch Cummings’ Handlungen, sondern noch einmal durch die seiner Verteidiger*innen aus der Regierung verhöhnt. Und bei bisher rund 37.000 offiziell registrierten Todesfällen (die Dunkelziffer wird wesentlich höher sein) geht die Zahl der davon persönlich Betroffenen weit in die Hunderttausenden.

Dass Boris Johnson, der gestern diese im Gleichschritt getweetete Solidarisierung mit Cummings angeordnet hatte, das moralische Problem daran nicht bemerkte, spottet seinem vielgepriesenen populistischen Gespür. Aus welchen Gründen auch immer er jenen für derart unverzichtbar oder unkündbar hält.

Boris Johnson auf einem großen Bildschirm, der die Bevölkerung aufruft, niemanden zu treffen außer die Menschen im eigenen Haushalt.

APA/AFP/Glyn KIRK

Sonntagabend fuhr ein Lieferwagen vor Dominic Cummings’ Haus in Islington vor und spielte von einer Großleinwand die unmissverständlichen Botschaften seines Chefs ab.

Insofern empfinde ich auch weitere Enthüllungen, wonach Cummings nicht bloß Ende März bis Anfang April, sondern auch Ende April und wieder Mitte Mai in Durham bzw. beim 50 Kilometer von dort entfernten Ausflugsziel Barnard Castle oder im Wald gesehen wurde, beinahe schon als unhilfreiche Ablenkung.

Denn sie machen eine völlig eindeutige zu einer zerfaserten Angelegenheit von Zeugenaussagen über Dinge, die aus der Nähe betrachtet wie Lappalien wirken.

Es ist polizeilich verbrieft, dass Cummings den Lock-down brach, darüber hinaus aber relativ unerheblich, ob er dabei schon krank war oder „nur“ seine Frau, ob er ein, zwei oder drei Mal zwischen London und Durham hin und her fuhr.

Der Kern dieses Skandals liegt nämlich nicht in solchen Details, sondern in der feudalen, arroganten Attitüde einer Regierung, die mit ihrer skandalös zögerlichen Reaktion auf die Coronavirus-Krise die nach den USA weltweit zweithöchste Todesrate eingefahren hat.

Und was immer diese Leute uns in Zukunft noch vorschreiben wollen, vom Social Distancing im Alltag über den verbotenen Verwandtschaftsbesuch bis zur 14-tägigen Quarantäne nach jedem Auslandsaufenthalt, wird ab jetzt bestenfalls wie eine mit dem väterlichen oder sonstigen Instinkt abzuwägende Empfehlung, schlimmstenfalls wie eine komplette Zumutung erscheinen.

Die moralische Autorität ist unwiederbringlich dahin.

Wenn ein Klischee stimmt, dann, dass die Schlange stehenden Brit*innen bei all ihrem Sarkasmus erstaunlich viel (zu viel) guten Willen zu ziviler Kooperation aufbringen.

Den zu verspielen, ist in einer Situation wie dieser ein Akt der allergröbsten Verantwortungslosigkeit.

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