1000 Serpentinen Angst: Die vielen Fratzen des Rassismus
von Michaela Pichler

S. Fischer Verlag
Der Debütroman „1000 Serpentinen Angst“ von Olivia Wenzel ist im S. Fischer Verlag erschienen.
Eine namenlose Frau verliert sich in der eigenen Familiengeschichte. Sie wächst in Thüringen als Schwarze Person auf, genauso wie ihr Zwillingsbruder. Der nimmt sich als junger Mann das Leben, vor den Augen der Protagonistin springt er am Bahnsteig vor einen Zug.
„1000 Serpentinen Angst“ ist voll von solchen Traumata, die die Erzählerin nicht loslassen. In ihren Erinnerungen schildert sie Erlebnisse am ostdeutschen Badesee, wo sie sich vor Neonazis verstecken muss, um nicht Opfer einer Gewalttat zu werden. Und sie erzählt vom Dauerzustand ihrer Kindheit, aufgrund ihrer Hautfarbe als „anders“ wahrgenommen zu werden:
„Was als schön galt und was nicht, wurde mir von klein auf beigebracht. Meine Großmutter las gern aus Kinderbüchern vor, auch aus dem Struwwelpeter. Meine Haare ließen sich mit ihrem Arsenal aus Kämmen und Bürsten schwer bändigen. Das sagte sie auch so, bändigen, zähmen, als gelte es, etwas Wildes zu bezwingen."
Wechselnde Orte & Zeiten
Die Geschichte verharrt aber nicht im deutschen Osten. In New York fühlt sich die Protagonistin das erste Mal frei. Und das, obwohl sie dort live miterlebt, wie Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten gewählt wird. Denn in New York fühlt sie sich zum ersten Mal nicht als sichtbare Minderheit, sondern als Teil der Gesellschaft.
Ständig Schwarze Männer in Business-Suits, Schwarze Jugendliche auf Skateboards, Schwarze obdachlose Seniorinnen, die sich in die U-Bahn quetschen – ich bin auf einmal Teil davon. Das kannte ich nicht.
New York, Marokko, Vietnam und Berlin - die Orte im Roman wechseln, genauso wie die Zeiten der Erzählerin. Die Vergangenheit ist als Schatten immer präsent – wie die Geschichte der unglücklichen Mutter, die sich als weiße Punkerin in der DDR eingesperrt fühlt und unter den Praktiken der Stasi leidet.
Auch in der Rolle der Mutter fühlt sie sich nicht wohl und versucht mehrmals, ihre Kinder deren Großmutter zu überlassen. Das geht auch an der Protagonistin nicht spurlos vorbei, die Beziehung zu ihrer Mutter bröckelt mit jedem Jahr, bis es fast keinen Kontakt mehr gibt. In dem Strudel der Vergangenheit verliert sich die rastlose Erzählerin in Angstzuständen. Sie kann nicht mehr schlafen, bekommt Antidepressiva verschrieben und sucht Hilfe bei verschiedenen Therapeut*innen.
Es gibt jetzt Angst, zu jeder Zeit, der Psychiater kann sie mir nicht nehmen. Wie auch, sie ist ungreifbar.
Wo Erlebtes und Fiktion verschwimmen
Angst kennt viele Gesichter in Olivia Wenzels Roman: Die Angst vor rassistischer Gewalt lauert auf jeder Seite. Mit der Angst, zu sehr aufzufallen und nicht dazuzugehören, ist die Protagonistin aufgewachsen.
Auch die Autorin Olivia Wenzel ist wie ihre Protagonistin in Thüringen als Schwarze Person geboren und lebt jetzt in Berlin. Außerdem ist die Autorin als Musikerin und Dramaturgin tätig. Letzteres macht sich auch in der Form des Debütromans bemerkbar, denn Teile des Buches sind im Dialog verfasst. Im Zwiegespräch, manchmal zwischen der Protagonistin und ihrem Selbst, einmal sogar zwischen ihr und ihrem toten Zwillingsbruder. Oft ist der Dialog aber ein hetzendes Frage-Antworten-Roulette, das an Verhörtechniken erinnert, an Psychotherapie oder an Fragen, die man beim Einreisen in die USA am Flughafen gestellt bekommt.
Olivia Wenzel spielt mit den Stimmen, der Geschichtlichkeit und der Perspektive. Dabei ist „1000 Serpentinen Angst“ als inhaltlich sehr dichte Autofiktion zu verstehen, in der man sich leicht verliert. Wo das Leben der Autorin aufhört und wo die Fiktion beginnt, ist nicht klar. Fest steht, dass die erzählten Erfahrungen mit Rassismus und rassistischer Gewalt auch 2020 leider alles andere als Fiktion sind.
Publiziert am 30.05.2020