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Polizistin greift nach Arm

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ROBERT ROTIFER

Lockdown in UK ist auch eine Frage von Status und Hautfarbe

Die mittelfristigen Folgen des Falls Dominic Cummings, der laut Polizei und Premierminister gar nichts Schlimmes angestellt hat - im Vergleich zu einer ganz anderen Amtshandlung neulich auf Londons Straßen.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Gut, dass wir einander wieder begegnen, aber wie habt ihr eigentlich hier her gefunden?

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ich frag nur, weil ich vorhin gerade in meiner Papierzeitung gelesen hab, dass MSN, eine Plattform der Firma Microsoft, von der sich manche ihre Nachrichten servieren lassen, gerade jene Menschen rausgeworfen hat, die bisher von Beruf die dort gefeatureten Artikel ausgesucht und konsumgerecht aufbereitet haben.

Ihr Job wird künftig von künstlicher Intelligenz erledigt, natürlich nicht von Robotern, wie der Guardian schreibt, sondern von schlau programmierten Algorithmen.

Entschieden hat das aber nicht Microsoft, sondern die für diese Dienstleistung zuständige Firma PA Media, deren auf ein zweistelliges Akronym reduzierter Name einst für Press Association stand.

Was immerhin beweist, dass uns mit der Umstellung auf automatisierte Berichterstattung ein zutiefst menschlicher Sinn für makabre Ironie nicht abhanden kommt.

Nennt mich altmodisch, aber die Auswahl des Erfahrenswerten ist schon eine Entscheidung, die ich eher einem Wesen mit Bewusstsein überlassen würde. Ein nicht unamüsantes Argument dafür lieferte diese vergangene Woche die Trending-Funktion von Twitter.

Obwohl es in Großbritannien keine größere Story gab, als die des alle Lockdown-Regeln bis zum Bruchpunkt biegenden Regierungsberaters Dominic Cummings (ich berichtete ausführlich), war sein Name auf Twitter mysteriöserweise nicht „trending“.

Schuld daran war allerdings keine Intervention von ganz oben, sondern Twitters Pornofilter, der Cummings’ Nachnamen anstößig fand. Was wieder einmal die Probleme der Tourismuswerbung der von einer ungünstigen Buchstabenabfolge verfluchten Stadt Scunthorpe im Online-Zeitalter illustriert (abgesehen davon, dass sie 2013 zum unromantischsten Ort Großbritanniens gewählt wurde).

Ich schrieb jedenfalls meinen Blog über Herrn Cummings hier einen Tag, bevor er sich den britischen Medien im Rosengarten der Downing Street stellte.

Dominic Cummings mit Polizistem

APA/AFP/Tolga AKMEN

Er verlas dort eine unglaublich langwierige Begründung dafür, warum genau er sich von einer Kombination aus diversen Symptomen, väterlicher und ehelicher Fürsorge gezwungen gesehen habe, das ein paar hundert Kilometer entfernte Anwesen seiner Eltern aufzusuchen. Allerdings ohne mit jenen in direkten Kontakt zu treten.

Die zu größtmöglicher Langweiligkeit gedehnten Details seiner Reise und seines Aufenthalts im nordenglischen Durham haben nun eine knappe Woche lang Millionen britischer Köpfe schwindlig gemacht - insbesondere seine Erklärung, warum er am 12. April, dem Geburtstag seiner Frau, mit jener und Kind das beschauliche Tourismusziel Barnard Castle besucht habe:

Nach seiner mutmaßlichen Covid 19-Infektion sei seine Sehfähigkeit eingeschränkt gewesen.
Also habe er – mit Familie – eine Probefahrt unternommen. Um zu prüfen, ob er imstande sei, nach London zurück zu fahren (Die Frage, warum seine Frau nicht fuhr, stellt interessanterweise niemand).

Allen, die ganz genau wissen wollen, wie Cummings sich zu dieser Schrulle verstieg, sei dringend die von der Financial Times als halbstündiges Video veröffentlichte, staubtrocken sarkastische Analyse des Juristen David Allen Green empfohlen.

Greens Befund (Spoiler!) ist, dass Cummings’ Statement nach dem Vorbild einer Zeugenaussage unter akutem Zeitdruck von einem Team von Anwält*innen verfasst worden sein muss.

Und diese professionelle Betreuung war scheinbar erstklassig, denn drei Tage später ließ die Polizei von Durham das ganze, ungläubig erstaunte Land wissen, dass sie nach Prüfung von Cummings’ Darstellung keine rechtlichen Schritte gegen ihn einleiten würde.

Wenn überhaupt, hätte man ihn auf der Fahrt nach Barnard Castle aufgehalten und zur Umkehr angewiesen, seine bloß mindere Verletzung der Lockdown-Regeln aber nicht angezeigt.

Zum Vergleich damit, wie es Leuten mit weniger prominentem Hintergrund ergeht, würde ich gerne auf diese in meine Timeline geschwemmte Aufzeichnung einer Amtshandlung in London verweisen.

Zur Übersetzung:

Die Polizistin sagt: „Hallo, alles in Ordnung?“

Der Mann mit dem mitfilmenden Telefon: „Ja, mir geht’s gut.“

Polizistin: „Ja, was ist los, mein Freund?“

Mann: „Nichts, warum?“

Polizistin: „Wir fragen uns nur, was sie in dieser Gegend machen?“

Mann: „Ich weiß nicht, ich bin gekommen, um meinen Freund zu treffen.“

Polizistin: „Okay, leben Sie hier?“

Mann: „Ja, das tue ich.“

Polizistin: „Ja? Okay. Was machen Sie denn?“

Mann: „Nichts, ich chille nur, hole mir ein bisschen Frischluft.“

Polizistin: „Okay. Wurden Sie schon einmal festgenommen?“

Mann: „Ja.“

Polizistin: „Wofür?“

Mann: „Fürs Autofahren.“

Polizistin: „Überschreitung der Verkehrsregeln.“

Mann: „Ja.“

Polizistin: „Haben Sie einen Ausweis bei sich?“

Mann: „Nein.“ (Anm., in Großbritannien besteht keine Ausweispflicht)

Polizistin: „Wurden Sie schon einmal festgenommen?“

Mann: „Ja.“

Polizistin: „Okay. In diesem Moment werden Sie für eine Drogendurchsuchung festgehalten.“

Dem Mann entfährt ein Glucksen.

Polizistin: „Wir haben viele Informationen, denenzufolge in dieser Gegend mit Drogen gehandelt wird, okay? Sie sind hier mit ihren Freunden und ein paar Autos. Und Sie haben mir nicht wirklich genug Grund gegeben zu glauben, dass Sie dazu hier sind, sie einfach nur zu treffen in einer Covid 19-Situation.“

Die Polizistin erklärt ihm, dass sie jetzt die Durchsuchung an ihm vornehmen werde: „Stehen Sie für mich auf, Kumpel“, sagt sie und greift ohne sichtbaren Anlass nach seinem Arm, der dabei ins Bild kommt. Weil das hier zweifellos eine Rolle spielt, sei erwähnt, dass er eine dunkle Hautfarbe hat.

Mann: „Moment, fassen Sie nicht so nach meinem Arm!“ (Verständlich, schließlich haben wir hier ja eine „Covid 19-Situation“.)

Polizistin: „Stehen Sie auf.“

Man sieht sie ein Paar Handschellen hervorziehen und eine davon an seinem Arm anbringen.

Polizistin: „Recht so, sie werden verhaftet.“

Mann: „Nein!“

Polizistin: „Ja! Das werden Sie!“

Hier bricht das Video ab.

Polizistin legt Handschellen an

Twitter

This is not America, wie einst Bowie sang, die Polizistin kniete nicht auf dem Hals des Frischluftsuchenden. Aber die Motivation der Amtshandlung hatte wohl ähnliche, bewusste oder unbewusste Hintergründe wie die der Kollegen drüben in Minneapolis.

Laut Statistik gab es in den vergangenen zwei Monaten rund 50 Prozent mehr Lockdown-bezogene Amtshandlungen gegen Angehörige ethnischer Minderheiten (in Proportion zu deren Bevölkerungsanteil betrachtet wäre diese Diskrepanz noch wesentlich größer), was immerhin Anlass zu Rückschlüssen über die ermittlerischen Kriterien der Exekutive gibt.

Weiß auch nicht, warum mir das gerade einfällt, aber manchmal hat man doch das Gefühl, Großbritannien habe ein etwas unterschätztes Rassismus-Problem.

Aber eigentlich waren wir ja vorhin noch beim Fall des Dominic Cummings. Hätte man den aufgehalten, wäre er wohl ganz sicher auch gleich nach Drogen durchsucht worden. Schon überhaupt, wenn er der Polizei erklärt hätte, er sei nur ausgefahren, um seine neuerdings total trippig gewordene Optik im Straßenverkehr zu erforschen.

Ist halt zufällig nicht so gelaufen.

Sein loyaler Arbeitgeber Boris Johnson hatte den Fall jedenfalls schon für abgeschlossen erklärt und Cummings höchste „Integrität“ zugesprochen, bevor die Polizei sein weises Urteil bestätigte.

Als bei einem seiner folgenden Presse-Briefings in der Downing Street die Politik-Chefin der BBC den anwesenden Chief Medical Officer Professor Chris Whitty und den obersten wissenschaftlichen Berater Sir Chris Vallance nach ihrer Meinung zu Cummings’ Eskapaden befragte, fiel ihr Boris ins Wort und stellte sich „schützend“ vor seine beiden Experten. Das sei eine politische Frage, es wäre unzumutbar, von ihnen darauf eine Antwort zu verlangen.

Ein wahrer Freund der Wissenschaft.
Wer weiß, was Whitty und Vallance zu sagen gehabt hätten.

Bei uns in der zunehmend neurotischen, häuslichen Dauerdebatte gibt’s jedenfalls immer noch einen energischen Einspruch, der in den Medien trotz Seiten um Aberseiten langer, Sendung um Abersendung füllender Ausführungen erstaunlicherweise bisher nicht zur Sprache kam.

J klebt hier seit Tagen an der Decke / pickt am Plafond, weil niemand es der Rede wert findet, zu bemerken, dass Cummings laut eigenen Angaben am 27.3. zur Arbeit in die Downing St zurückkehrte, NACHDEM ihm sein Chef Boris Johnson am Vorabend von seiner eigenen Infektion erzählt habe.

Hätte Cummings, der mit Johnson in Kontakt gewesen war, daraufhin nicht schon zu diesem Zeitpunkt isolieren müssen?

Diese Frage ist nicht so pedantisch, wie sie klingt.
Sie spielt eine Rolle, zumal Großbritannien gerade – nach Vorbild von Ländern wie dem euren – das Herunterfahren des Lockdown eingeläutet hat und sich stattdessen auf eine „Track & Trace“-Strategie verlegen will (in der Praxis einem anonymen Insider-Bericht zufolge derzeit allerdings noch eher Goofy als Tick, Trick und Track).

Und das bei mindestens über 38.000 Toten, immer noch 8000 Neuinfektionen pro Tag und einer auf zwischen 0,7 und 0,9 geschätzten Reproduktionsrate (im Landesdurchschnitt, in manchen Gegenden muss sie also wohl immer noch über der kritischen 1 liegen).

Wie soll das wohl funktionieren, wenn offenbar weder Cummings und Johnson noch Polizei oder Presse in den Regeln der Selbst-Isolation firm sind?

Whitty und Vallance mögen Johnsons Politik immer noch wissenschaftliche Deckung geben, doch der Konsens des hinter ihnen stehenden, wissenschaftlichen Gremiums SAGE ist bereits am Bröckeln. In den vergangenen zwei Tagen gingen gleich drei SAGE-Mitglieder gegen die Regierungslinie an die Öffentlichkeit.

John Edmunds, ein auf infektiöse Krankheiten spezialisierter Professor der London School of Hygiene and Tropical Medicine, warnte, das Virus verbreite sich immer noch zu schnell, um den Lockdown zu beenden. Sein SAGE-Kollege, der Chef des angesehenen Wellcome Trust Jeremy Farrar pflichtete ihm per Twitter bei, gefolgt von Professor Peter Horby, dem Vorsitzenden der New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group (wunderschönes Kürzel: NERVTAG).

Ersterer ist übrigens derselbe John Edmunds, der Anfang März in der entscheidenden Phase gegen einen Lockdown und für die seither allseits geleugnete Strategie der Herdenimmunität eingetreten war.

In diesem Tweet sieht man einen Ausschnitt seines legendären Fernsehauftritts von damals (wie der fotogen verzweifelte Experte auf dem Bildschirm hinter ihm hieß, weiß ich nicht mehr):

Doch dieser Zug scheint ohnehin längst abgefahren, denn eine klare katastrophale Konsequenz des Falls Cummings ist, dass ein nach Strich und Faden verhohnepiepeltes Großbritannien den Lockdown sowieso nicht länger mitgemacht hätte.

Und so desaströs die ganze Geschichte auch für Boris Johnsons augenblicklich auf minus 1 abgesackte Vetrauenswerte gewesen sein mag, am Ende hat sie dann irgendwie doch genau das erreicht, was er wollte:

Dass die Leute rechtzeitig zur Aufhebung des Lockdowns und des stufenweisen Abdrehens der kostspieligen Kurzarbeits-Finanzierung aus eigenen Stücken auf die Straßen, an die Strände und in die Arbeit strömen und dabei ordentlich die Wirtschaft ankurbeln. Win win, Stau und Barbecues.

„Koste es, was es wolle“, hatte es am Anfang des Lockdowns geheißen.

Jetzt heißt es das de facto wieder, nur werden die Kosten diesmal nicht in Pfund, sondern in Menschenleben gezählt.

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