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Niki Glattauer in seiner Wohnung

Gersin Livia Paya

FM4 Doppelzimmer mit Niki Glattauer: „Alles löschen und neu aufsetzen“

Niki Glattauer hat lange als Journalist gearbeitet, bevor er mit Ende dreißig Lehrer geworden ist. Heute ist er Schuldirektor an der SZ Rosasgasse in Wien, schreibt Bestseller über den Schulalltag und lässt keine Gelegenheit aus, das gegenwärtige Bildungssystem öffentlich zu kritisieren.

Von Elisabeth Scharang

Niki Glattauer ist in Wien Favoriten im Gemeindebau aufgewachsen. Ich auch. Das verbindet, ob man will oder nicht. Ich weiß nicht, ob das mit anderen Bezirken und deren Bewohner*innen in Wien auch so ist, aber bei denen, die aus Favoriten kommen, ist das definitiv so. „Ich bin ziemlich schnell von zu Hause ausgezogen“, erzählt Glattauer. „Weil ich es mit meiner Mutter nicht gut ausgehalten habe.“ Nach einigen Wohnungen und Bezirken später ist er wieder zurückgekehrt nach Favoriten und lebt seit fünf Jahren mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in einer Gemeindebauwohnung. „Meine Tochter ist 17, ich glaube, sie findet es gut hier. Es ist alles zu Fuß zu erreichen und die Menschen sind offen. Eine lebendige Nachbarschaft. Beide Kinder haben ihr eigenes, wenn auch sehr kleines Zimmer und der Balkon schaut auf den Park gegenüber. Klar stört mich, wenn die Leute den Müll in die Wiese schmeißen, das ist in Döbling nicht so, aber dafür reden die Leute hier miteinander und schauen dich an, wenn du vorbei gehst. Ich wohne wirklich gerne hier.“

Nikis 17-jährige Tochter geht mit ihrem Müsli in ihr Zimmer, der große Kater (oder ist es eine Katze?) begibt sich in Beobachtungsposition, wir schließen die Balkontür und beginnen unser Gespräch. Wie schön, dass ich wieder einmal persönlich einem Doppelzimmergast gegenübersitze und nicht nur einen Bildschirm vor mir habe! So großartig die Möglichkeit war, einfach nach Salzburg, München und Berlin zu schalten, ohne zu reisen, so sehr hat mir das face-to-face Gespräch gefehlt, in dem im Moment klar ist, ob man einander leiden, riechen kann oder nicht. Interessanterweise setzt der Bildschirm hier eine Grenze. Aber nun wieder zu Niki Glattauer und seiner Geschichte.

"Ich habe immer große Umwege gemacht

Niki Glattauer ist wie sein Vater Journalist geworden. Auch Nikis um eineinhalb Jahre jüngerer Bruder Daniel Glattauer hat lange für Zeitungen Kommentare geschrieben, bekannt geworden ist er vor allem durch den Bestseller „Gut gegen Nordwind“. „Im Gegensatz zu meinem Bruder bin ich immer große Umwege gegangen, um letztlich dort anzukommen, wo ich hin möchte. Ich wollte von Beginn an Kommentare für Zeitungen schreiben, aber das war der Chefredaktion vorbehalten. Also hab ich mich langsam hochgearbeitet – in verschiedenen Zeitungen. Ich hab für Die Presse, die Kronenzeitung, die Arbeiterzeitung und News geschrieben. Nebenher habe ich Romane veröffentlicht, die sich aber schlecht verkauften. Mit Ende 30 wollte ich das alles nicht mehr. Und hab gekündigt.“

Vom Journalisten zum Lehrer

Wie kommt man auf die Idee, mit 40 diesen Weg einzuschlagen? „Ich wollte nicht jahrelang studieren“, kommentiert Niki Glattauer seine damalige Entscheidung pragmatisch. Fakt ist, dass er ziemlich schnell im Lehrerberuf aufgegangen ist. Weniger, was die Wissensvermittlung betrifft, die hält er für massiv überbewertet, aber der tägliche Umgang mit den Kindern, das hat viel Energie gegeben. Glattauer unterrichtete zunächst als Hauptschullehrer und hat berufsbegleitend die Ausbildung für Sonderpädagogik gemacht. „Meine Absicht war nicht, mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen zu arbeiten und sie zu betreuen, sondern ich wollte dieselben Kinder nicht nur drei, vier Stunden die Woche unterrichten sondern regelmäßiger und öfter sehen, um eine Bindung aufzubauen, die ich für wichtig halte. Und das geht in der Regelschule nicht, aber in der Sonderpädagogik schon.“

Bald wurde er eingeladen, seine Erfahrungen als Lehrer an der Schule niederzuschreiben und zu veröffentlichen. „Und so hat sich erfüllt, was ich mir davor gewünscht hatte: Kommentare zu schreiben“, lacht er.

Niki Glattauer in seiner Wohnung

Gersin Livia Paya

So kann Schule aussehen

2013 hat die Wiener Zeitung Bildungsexpert*innen gefragt, wie sie sich ihre Wunschschule vorstellen.

Niki Glattauers Antwort darauf, WIE SCHULE AUSSEHEN KANN:

  • Leistung ist kein Selbstzweck.
  • Lehrer*innen und Schüler*innen verstehen einander als Lebensabschnittsbegleiter. Fehler werden als naturgemäß zum Lernprozess gehörig betrachtet und wohlwollend behandelt. Leistung wird belohnt, vermeintliches Versagen jedoch nicht bestraft. Nicht genügend und Sitzenbleiben als Sanktion gibt es nicht mehr.
  • Pädagog*innen sind grundsätzlich akademisch ausgebildet, das gilt auch für den Elementarbereich. Die Gehaltspyramide wird umgedreht: Je jünger die Schützlinge, desto höher der Lohn.
  • Kindergarten und Grundschule sind verpflichtend und dauern, so lange sie eben dauern: Das Kind wechselt erst dann in die Mittelstufe, wenn es als dafür reif eingestuft wird, unabhängig vom Alter.
  • Die Mittelstufe dauert bis zur 9. Schulstufe. Sie ist eine gemeinsame Mittelstufe und wird in Haupt-Mittel-Schulen (die diesem Namen dann auch gerecht werden) geführt. Die Schulen unterscheiden sich nicht durch gesellschaftliche Graduierung, sondern in ihren Profilen, die für Eltern erkennbar sind. Manche spezialisieren sich auf besondere Talente.
  • Nach der Mittelstufe gibt es ein „berufspraktisches Jahr“ für alle, das dem heutigen Poly entspricht und dieses aufwertet. Erst nach dieser 10. Schulstufe endet die Schulpflicht. In diesem Berufsjahr lernen alle Kinder verschiedene Berufe (vorzugsweise Lehrberufe) kennen. Es gibt erstmals eine (geringe) Entlohnung für getane Arbeit.
  • Wer jetzt Richtung Universität gehen will, besucht (in der Regel mit 16, 17 Jahren) zur Vorbereitung die bewährte AHS. Erstes Etappenziel ist eine Matura, die zur Hälfte zentral vorgegeben ist, zur anderen Hälfte die besonderen Eignungen der Schüler berücksichtigt, mit Spielraum für individuelle Aufgabenstellung und Vorbereitung.
  • Jede Schule hat ihr Stammhaus (in der guten, alten, denkmalgeschützten Schulkaserne), erweitert um „Lernstudios“: Die Schulbehörde mietet Wohnungen oder Häuser, zu denen die Lehrer für das vertiefende Lernen pendeln: Dort können gruppenweise Hausaufgaben erledigt werden, es gibt eine schulische Infrastruktur, die auf Kleingruppen ausgerichtet ist. Damit entsteht für die Schüler neuer Schulraum, aber in der realen Welt. Die Kinder kommen hinaus, für die Lehrer wird im Stammhaus Arbeitsplatz frei.
  • Die Schule wird also in der Schule erledigt. Ja zum Üben. Nein zur Hausübung. Der schulische Erfolg hängt nicht mehr von Nervenstärke und logistischem Geschick der Eltern ab. Väter und Mütter dürfen endlich wieder für elterliche Gernhabungen zuständig sein und nicht mehr für die Powerpointpräsentation zum Thema Holzfällen in Kanada. Lehrer als Mütter und Väter sind davon nicht ausgenommen.

FM4 Doppelzimmer am Pfingstmontag

Im FM4 Doppelzimmer am Pfingstmontag, 1.6. 2020 von 13 bis 15 Uhr erzählt Niki Glattauer, warum er die Schule vor dem Sommer nicht mehr aufgesperrt hätte, ob er als Schüler Lieblingslehrer*innen hatte, warum wir seiner Ansicht nach zu wenig über den Tod reden und wie er damit klarkommt, dass man als Vater an Bedeutung für seine Kinder verliert, wenn sie älter werden.

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