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Szene aus "Paying the Land"

Joe Sacco

Wie Kolonialismus funktioniert

Über 10 Jahre sind seit Joe Saccos letzter großen Comic-Reportage „Footnotes in Gaza“ vergangen. Seine neue Graphic Novel heißt „Wir gehören dem Land“. Darin geht es um die kanadischen Ureinwohner*innen und den „kulturellen Genozid“, der an ihnen begangen wurde.

Von Paul Pant

Manchmal sind Recherchewege verschlungen. Joe Sacco wollte sich vor fünf Jahren ursprünglich mit dem Thema Klimawandel beschäftigen. Nach über zwei Jahrzenten als zeichnender Kriegsreporter bekam er von einem französischen Magazin einen Auftrag für „eine short story“ über die Nordwest-Territorien in Kanada. Sein Ausgangspunkt war eine „vergleichende Studie“ über die Ausbeutung von Rohstoffvorkommen. In Kanada stieß er auf die Dené, die Nachfahren der Ureinwohner*innen, deren Leben von den Rohstoffen bestimmt ist.

Sacco fiel auf, dass an den meisten Orten, wo heute Öl, Gold und Erze gefunden werden, die Ureinwohner*innen verdrängt werden, oder ihr Leben radikal anpassen müssen. „Das passiert auf der ganzen Welt, in den USA, Südamerika und auch Kanada“, sagt er. „Für diese Menschen sind Rohstoffe ein Fluch.“

Auslöschung einer Kultur

Die Geschichte der Dené, den Nachfahr*innen der kanadischen Ureinwohner*innen, ließ ihn nicht mehr los. Aus der ersten kurzen Recherchereise wurde ein zweiter, längerer Aufenthalt nördlich des 60. Breitengrades, am Flusslauf des großen Mackenzie River. Und schließlich eine 272-seitenstarke Comic-Reportage. Sie beginnt mit den Kindheits-Erinnerungen von Paul Andrew, einem Stammesführer der Dené. Er hat noch das naturverbundene Leben, abseits der westlichen Zivilisation gekannt. Andrew und viele weitere Zeugen schildern, wie ihre Kultur zerstört wurde, als der kanadische Staat damit anfing, die Dené-Kinder von den Eltern zu trennen und in Internate zu stecken. Die Muttersprache war dort verboten, es durfte nur Englisch gesprochen werden.

Buch-Cover von Paying The Land von Joe Sacco

Joe Sacco

Staatlich finanziertes Kidnapping

Man könne gut beobachte, dass dem kanadischen Staat die indigene Bevölkerung lange Zeit egal war, erzählt Joe Sacco. Da die Region zu weit nördlich war, konnte man keine Landwirtschaft betreiben. Erst als Öl und Gold gefunden wurde, habe man die Gebiete und Menschen unter Kontrolle bekommen wollen. Und das ging am einfachsten über die Kinder. Sacco zitiert den ersten Premierminister Kanadas John Macdonald (1867-1873), der gesagt haben soll, dass man einen Wilden zwar Lesen und Schreiben beibringen könne, aber dann nur einen Wilden bekommt, der lesen und schreiben kann. Macdonalds Plan: „Man muss die Wilden aus ihren Gemeinschaften holen und sie zum Leben des Weißen Mannes erziehen“, erzählt Sacco.

Cover von Paying The Land von Joe Sacco

Joe Sacco

Joe Saccos Comic-Reportage „Wir gehören dem Land“ ist im englischen Original bei Metropolitan Books erschienen. Die deutsche Übersetzung bei Edition Moderne, übersetzt von Christoph Schuler.

Die Praxis Kinder von den Eltern zu trennen und „umzuerziehen“ wurde in den sogenannten „Residential schools“ bis in die 1990er Jahre organisiert. Als staatlich finanziertes Kidnapping beschreibt es ein Betroffener in Joe Saccos Buch. Die Folgen sind verheerend. Eine kanadische Kommission, die das System der Zwangserziehung untersucht hat, stellte 2009 fest, dass an der indigenen Bevölkerung Kanadas ein „Kultureller Genozid“ begangen wurde.

Zwischen Fortschritt und Vergessen

Die Zwangsassimilierung hat die Gemeinschafts- und Stammesstrukturen der Dené zerstört. Gewalt, Drogenmissbrauch und Alkohol sind die verheerenden Folgen in den Communities. Die meisten jungen Dené können die Sprache ihrer Großeltern und Eltern nicht mehr sprechen. Aus naturverbundenen Nomad*innen, die im Einklang mit der Natur und dem Land gelebt haben, sind sesshafte, aber kulturell entwurzelte Arbeiterinnen und Arbeiter geworden, erzählt Joe Sacco. Die heutige Situation sei zudem sehr komplex. „Es gibt ein Drittel der Dené, die für die Ausbeutung der Rohstoffe sind, ein Drittel ist strikt dagegen und wieder ein Drittel will beides“, beschreibt Joe Sacco die Zerrissenheit der Communities. Die Dené wohnen heute in Städten, viele arbeiten für die Erdölfirmen, die ihre Wälder zerstört haben, in denen sie früher gejagt haben. Die Junge Generation versucht allerdings an die vergessenen Traditionen wieder anzuknüpfen und die verlorene Kultur wiederzuentdecken.

Joe Sacco hat seine Spurensuche und seinen Rechercheweg in die Erzählungen der Dené einfließen lassen. Dabei hat er sich auch immer wieder selbstironisch in die Gespräche hineingezeichnet. Wenn er in ein Fettnäpfchen tritt, oder eine allzu naive Frage stellt, zeigt er das auch in seinem Comic. Damit untergräbt Sacco die Vorstellung, dass er als Journalist ein Experte sei. Er lässt die Ureinwohner*innen Kanadas sprechen und legt gleichzeitig seine subjektive Journalistenrolle offen. In „Wir gehören dem Land“ schafft es Joe Sacco wieder einmal, die komplexen Zusammenhänge der Situation der Dené zu erklären, an denen kurzlebige Nachrichten-Berichte oftmals scheitern.

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