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Szenenbild aus The Nightingale

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FILM

„The Nightingale“ geht unter die Haut

Mit ihrem beklemmenden Film unterwandert die australische Regisseurin Jennifer Kent nicht nur die Grenzen zwischen Genres. Ihr gelingt auch ein komplexes Statement zu Missbrauch und Rassismus.

Von Christian Fuchs

Ja, dieser Film geht unter die Haut. Er gräbt sich in die Eingeweide. Er schockiert und verstört nachhaltig. Es passieren unaussprechliche Dinge in „The Nightingale“. Und es ist verständlich, wenn manche Zuschauer*innen schon nach einer halben Stunde aufgeben.

Regisseurinnen des Schreckens

Jennifer Kent ist bei weitem nicht die einzige aktuelle Filmemacherin, die dem Horrorkinoinnovative Impulse beisteuert. Mit Schockern wie „Jennifer’s Body“ und vor allem dem gespenstischen Thriller „The Invitation“ beweist Karyn Kusama ihre Genre-Affinität. Die Französin Julia Ducournau schockiert 2016 mit ihrem Spielfilmdebüt „Raw“, in dem eine vegane Studentin zur kannibalistischen Killerin mutiert. Ebenfalls hektoliterweise Kunstblut spritzt in Coralie Fargeats schlicht „Revenge“ betiteltem Horrorepos, einem hyperplakativen Angriff auf Machismo-Stereotypen. Nicht zu vergessen Ana Lily Amirpour und ihr poetisch-cooler postmoderner Vampirwestern "A Girl Walks Home Alone at Night“.

Gleichzeitig ist die gezeigte Gewalt nie selbstzweckhaft oder ausbeuterisch, wie man es von manchen heftigen Genrespektakeln kennt. Viel von der Brutalität des Geschehens wird auch gar nicht explizit gezeigt. Aber die Bilder im eigenen Kopf sind ohnehin schlimmer.

Thematisch vielschichtig

Jennifer Kent, eine äußerst sensible Regisseurin, hat jedenfalls einen Rachefilm gedreht, der das genaue Gegenteil von Hollywoods reißerischen Vergeltungsfantasien darstellt. Ihre Kollegin Lynne Ramsay und deren letztes Werk „A Beautiful Day“ kommen einem als einziger Vergleich in den Sinn. Auch in diesem experimentellen Thriller, in dem Joaquin Phoenix als kaputter Rächer durch das Geschehen taumelt, werden Erwartungshaltungen unterwandert.

„The Nightingale“ ist aber thematisch noch vielschichtiger. Und in seiner Verweigerung jeglicher maskuliner Kraftlackl-Posen lässt er sich auch als feministische Antwort auf die unzähligen Vigilanten-Streifen sehen, die seit „Taxi Driver“ produziert wurden.

Szenenbild aus The Nightingale

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Alles andere als ein blutiger Actionthriller

Der Film spielt in einer Strafkolonie, irgendwie im australischen Busch, Anfang des 19. Jahrhunderts. Eine Gruppe britischer Soldaten gibt im Lager herrisch den Ton an, angeführt von einem sadistischen Lieutenant. Eine junge irische Inhaftierte, die allabendlich Lieder für die Truppe singt, wird von den Männern gierig betrachtet. Als die Soldaten eines Abends dann wirklich aufdringlich werden, wehrt sich Clare vergeblich. Es kommt zu einem Massaker, dass weder ihr Mann noch das kleine Baby überleben.

Die vergewaltigte Frau, der man alles genommen hat, schwört Rache an ihren geflüchteten Peinigern. Sie bezahlt einen Aborigines-Burschen als Spurensucher, der ihr bei der Suche helfen soll. Hier könnte ein blutiger Actionthriller mit Versatzstücken eines desolaten Buddy-Movies beginnen. Aber Jennifer Kent hat anderes vor.

Statt das Klischee vom eiskalten Rachengel zu bedienen, konzentriert sich „The Nightingale“ auf das Verhältnis zwischen der zerstörten Protagonistin Clare und dem jungen Ureinwohner Billy. Auch die Antiheldin, eigentlich als tragische Identifikationsfigur gedacht, behandelt den Fährtenleser zunächst wie einen Menschen zweiter Klasse. Die heftigen Streitereien, die den gemeinsamen Trip durch den tasmanischen Regenwald begleiten, sind voller rassistischer Untertöne.

Szenenbild aus The Nightingale

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Radikaler und ambivalenter Film

Bis zum erschütternden Finale ist nicht klar, ob sich die beiden Außenseiter Clare und Billy jemals versöhnlich gegenüberstehen werden. Aisling Franciosi („Game Of Thrones“) und Baykali Ganambarr brillieren in diesem zermürbenden Spiel. Aber auch der prominente Brit-Schönling Sam Claflin fügt sich als Bösewicht ins fantastische Ensemble ein.

Letzlich erzählt „The Nightingale“ von toxischer und tödlicher Männlichkeit, vom Schrecken des Kolonialismus und einer Herrenmenschen-Haltung, die untrennbar mit der australischen Geschichte verbunden ist. So einen radikalen wie ambivalenten Film, der wie ein Schlag in die Magengrube wirkt, hat niemand von Jennifer Kent erwartet.

Szenenbild aus The Nightingale

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Als die australische Schauspielerin 2014 in den Regiesessel wechselt, begeistert sie zwar mit ihrem Debüt „The Babadook“ sofort Kritiker und Genrefilmfans. Aber der Gespensterthriller, der Gänsehautmomente mit psychologischer Tiefe verbindet, ist schon eine andere Kategorie als ihr neues Werk.

Auch der Buschwestern „The Nightingale“, übrigens bereits 2018 gedreht, steckt voller Horrorelemente, aber ohne jeden Hauch Übersinnlichkeit. Hier geht es um realen Terror, für den man tatsächlich starke Nerven braucht. Aber andererseits sieht man solche dunklen, kompromisslosen Meisterwerke nicht alle Tage.

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