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Bronzestatue wird mit Seilen von ihrem Sockel heruntergezogen

APA/William Want Twitter account/AFP

ROBERT ROTIFER

Die große britische Verdrängung, versenkt im Hafen von Bristol

Mit dem Akt der Versenkung der Statue eines Sklavenhändlers im Hafen von Bristol hat die britische Variante der „Black Lives Matter“-Bewegung die blutigen Wurzeln des britischen Reichtums offen gelegt.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Eigentlich wollte ich ja darüber schreiben, dass ihr – falls ihr uns hier in Großbritannien besuchen wollt – dem Gesetz nach ab heute zwei Wochen lang in Quarantäne gehen solltet.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Obwohl wir die weit mehr Verseuchten sind, nicht ihr, und obwohl sogar das britische Innenministerium bereits zugibt, dass diese Regelung sich nicht überwachen lassen wird.

Und obwohl jetzt schon an Ausnahmen für EU-Länder verhandelt wird. Schließlich will der britische Staat zwar, dass die Leute ihr Geld auf der Insel belassen und keine Urlaube buchen, aber Tourist*innen hätte man schon gern, Obstpflücker*innen auch. Alles in allem ein interessanter Testlauf für die Zeit nach dem vollzogenen Brexit.

Aber dann fiel die 125 Jahre alte Statue eines alten Sklavenhändlers in den Hafen von Bristol.

Es war immer schon bloß eine fragile Relativierung gewesen, die den britischen Konsens aufrecht erhielt: Die Vorstellung von Großbritannien als der moderaten Kraft im Verlauf der jüngeren Weltgeschichte, gekrönt vom reformierten, modernen, multiethnischen Begriff der britischen Identität, jenem exzeptionalistischen Paradoxon, demzufolge die Brit*innen was Besonderes, weil weniger rassistisch sind als andere Völker.

Eine verführerische Sicht, die anfangs den Blick auf die Straßenschlachten in den USA mit einem Schleier der Überlegenheit umflorte. Schau dir an, wie rückständig die da drüben sind, wie unzivilisiert im Vergleich zu uns.

Die britische Lesart von „Black Lives Matter“, abseits vom mörderischen Kontext amerikanischer Polizeigewalt, reduziert auf den verbalen Gehalt des Slogans, klingt ja auch nach einer derart selbstverständlichen Minimal-Forderung.

Das Land war bloß eine gefühlte halbe Woche davon entfernt, das Motto in sein allgemeines Repertoire an Selbstgratulationen aufzunehmen, gleich neben den von Kinderhand selbst gemalten Regenbögen im Fenster als Tribut ans Gesundheitssystem und den roten Mohnblumen für gefallene Soldaten am Mantelaufschlag oder den roten Nasen für vom Wohlfahrtsstaat vergessene „Children in Need“.

Erst ein Monat ist es her, dass die Guardian-Kolumnistin Afua Hirsch schrieb: „Es muss in diesem Moment weh tun, ein Rassist zu sein“, so stark schien der öffentliche Zusammenhalt in Zeiten der Coronakrise. Hirschs ganze Argumentation widmete sich der von britischen Linken und Liberalen seit Jahrzehnten unermüdlich aufgewärmten Strategie, ethnische Minderheiten in die nationale Erzählung hineinzuschreiben. Als gute Brit*innen, die ihren Platz auf der Union-Jack-Picknickdecke verdient haben.

Selten ist eine Illusion schneller zerplatzt, vgl. Hirschs Kolumne vom 3. Juni, in der sie die Heuchelei der britischen Weichzeichnerperspektive auf den Kolonialismus beklagt und zur kritischen Betrachtung der eigenen Geschichte mahnte.

Es sollte bloß eine tatsächliche halbe Woche dauern, bis das weiße Großbritannien zeigen sollte, was es davon hält.

Die offizielle Fassung dieser Geschichte wird wohl erst bei dem Moment beginnen, als die jungen Demonstrant*innen in Bristol einen Strick um den Hals der Statue des Sklavenhändlers und „Philanthropen“ Edward Colston legten und deren letzter Weg zum Grund des Hafenbeckens begann.

Dabei fand das Vorspiel dazu am Abend zuvor an der Whitehall in London statt, wo die Metropolitan Police den „harten Kern“ des Black-Lives-Matter-Aufmarschs in einen Kessel gezwungen hatte.

Wie Social Distancing mit dem Einkesseln von Demonstrant*innen zusammengehen soll, ist schwer zu erklären. Besonders besorgniserregend waren aber die Bilder in die Menge reitender berittener Polizei, die an jenem Abend in meine Twitter-Timeline schwappten.

Es dauerte erwartungsgemäß nicht lange, bis die Situation eskalieren musste. Denn natürlich reagierten die Demonstrierenden mit hilflosem Zorn auf diesen Vorstoß der Kavallerie. Mindestens ein Fahrrad, das zeigen diverse Videos, wurde in den Weg der Pferde gerollt, bis eines davon mit seiner Reiterin durchging. Die Polizistin prallte dabei gegen eine Verkehrsampel und wurde von ihrem galoppierenden Pferd abgeworfen.

Titelseite der Mail on Sunday

Robert Rotifer

Die Daily Mail hatte nun ihr Titelbild, das die Staatsgewalt als Opfer zeigte, und aus dem Büro des Premierministers, der zu den Ereignissen auf den Straßen des großen Bündnispartners jenseits des Atlantik geschwiegen hatte, tönte das starke Wort „thuggery“, aufgeladen von Jahrzehnten der Rassenunruhen, in denen britische Medien die wütenden Minderheiten stets als halbwilde Raufbolde charakterisiert hatten.

Die alte Sichtweise des schwarzen urbanen Britannien als latent vorhandenes Gewaltpotenzial hatte auf einen Schlag das Bild der sich aufopfernden dunkelhäutigen Kranken- und Altenpfleger*innen aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Und es wurde wieder augenfällig, dass auch dieses positive Bild jene letztlich nur als gutes Gesinde dargestellt, das sich um seine Herr*innen verdient gemacht hatte. Ein Recht aufs Aufmucken und Stellen von Forderungen war in diesem gönnerhaften Lob der Dienenden nie inbegriffen gewesen.

Das war also der aufgeheizte Hintergrund, vor dem sich am Sonntagmorgen in Britanniens Städten erneut Aufmärsche formierten, unter anderem auch in der Universitätsstadt Bristol, wo sich – so wie etwa in Glasgow oder auch Oxford – schon seit Ewigkeiten ein dringliches Begehren nach einer längst überfälligen Vergangenheitsbewältigung bemerkbar gemacht hatte.

Schließlich zeugen die Prunkfassaden, Straßennamen und auch die Statuen im Zentrum von Bristol von dem Reichtum, den Großbritannien sich einst mit dem Verschiffen von aus den Kolonien geraubten Menschen nach Amerika ergaunerte.

Die Anwesenheit der schwarzen Minderheit in Großbritannien geht – mit Ausnahme jüngerer Einwanderung aus afrikanischen Ländern – im Gegensatz zu der in den USA nur indirekt auf diesen Sklavenhandel zurück.

Anders als in Amerika, wo Nachfahren dorthin verkaufter Menschen immer noch um ihre vom Ende der Sklaverei versprochenen Rechte kämpfen, waren diese Schwarzen Mitte des 20. Jahrhunderts aus freien Stücken (wenngleich auf der Flucht vor Armut) aus den Kolonien in der Karibik ins britische Mutterland gezogen, um dort als Arbeitskräfte nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Kaste von Bediensteten zu bilden.

Daher stand im Mittelpunkt dieser Wahrnehmung der afrokaribischen Diaspora als Eindringlinge ins weiße Großbritannien deren Kampf um Akzeptanz als gleichwertige Bürger*innen des britischen Empire. Die insbesondere in der Reggae-Kultur angesprochene Herkunft derer Vorfahren aus Afrika übersetzte sich im politischen Mainstream nie wirklich in einen Ruf nach Wiedergutmachung für die britischen Verbrechen, aufgrund derer jene ursprünglich in die Karibik verfrachtet worden waren.

Diese tiefe, lang verdeckte historische Wunde klafft nun seit den gestrigen Ereignissen in Bristol offener denn je.

Wer in Großbritannien in die Schule geht, lernt zwar etwas über die Sklaverei, das eigene Land erscheint auch dabei aber vor allem in der Rolle eines Guten: des Parlamentariers William Wilberforce, der an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in einer hartnäckigen Kampagne die Abschaffung der Sklaverei in großen Teilen des britischen Weltreichs durchsetzte.

Die Humanität der Briten im Kontrast zu ihrer ehemaligen nordamerikanischen Kolonie, wo die Befreiung der Sklav*innen noch bis 1865 auf sich warten ließ, übertüncht dabei im Rückblick das selbst verursachte Unrecht.

Das war auch schon im November 1895 so, als der Bürgermeister und der Bischof von Bristol jene Statue des 1721 verstorbenen Sklavenhändlers Edward Colston enthüllten, mit der Inschrift: „Von den Bürgern von Bristol errichtet zum Gedenken an einen der tugendhaftesten und weisesten Söhne ihrer Stadt“.

Colston hatte mit seinem bei der Royal Africa Company an der Sklaverei verdienten Geld im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert in Bristol und anderen englischen Städten Schulen und Spitäler finanziert. Der Ursprung seines Vermögens war bei seiner Verewigung in Bronze 200 Jahre später schon nicht mehr der Erwähnung wert. Die Statue ist somit nicht historisches Dokument einer Zeit, zu der man es nicht besser wusste, sondern einer, zu der man es längst besser wissen hätte müssen, aber nicht wollte.

Den Verdienst am Ende dieser systematischen Verdrängung trägt die von postkolonialen Studien an Unis wie der von Bristol vorangetriebene Aufklärung. Sie übersetzte sich etwa in die öffentlichkeitswirksame Weigerung von Bristols musikalischen Aushängeschildern Massive Attack, in einer nach Colston benannten Konzerthalle zu spielen.

Die Idee, dessen Statue nach Jahren erfolgloser Kampagnen ohne offizielle Genehmigung niederzureißen, kam also nicht als sinnloser Vandalenakt aus dem Blauen heraus. Sie war vielmehr eine spontane Ausführung einer lange zurückliegenden Forderung, verurteilt von denselben Leuten, die einst den Fall der Berliner Mauer oder der Götzenbilder eines Saddam Hussein als legitimes Luftmachen des gerechten Volkszorns feierten.

Der finale Akt, Colston im Hafen von Bristol zu versenken, anstatt ihn, wie es etwa Labour-Chef Keir Starmer für besser gehalten hätte, unter kritischen Anmerkungen in ein Sklaverei-Museum zu stellen, war wiederum symbolisch gewählt.

Denn von den rund 100.000 Afrikaner*innen, die die Royal Africa Company auf engstem Raum nach Amerika schiffte, wurden rund 20.000 während der langen Reise ins Meer geworfen. Das Wissen darum setzt die Empörung über Colstons Versenkung nicht nur in ein makabres Verhältnis, es lässt die seither für die Statue vergossenen Krokodilstränen geradezu obszön erscheinen.

Kaum war Colstons Ebenbild gestürzt, wurden auf meiner Timeline allerlei Rufe nach dem Sturz allerlei anderer Statuen laut, vom rassistischen Diamantenmagnaten Cecil Rhodes am Oriel College in Oxford bis zum Erfinder des Wahlslogans „Keep Britain White“ Winston Churchill am Parliament Square. In dessen glorifizierter Gestalt freilich trifft die seit einem guten halben Jahrhundert unter der Oberfläche der Empire-Nostalgie brodelnde Imperialismuskritik direkt auf die in Zeiten des Brexit so omnipräsent gewordene, heroische Erzählung des Zweiten Weltkriegs. Spätestens da hören sich – mit einem Bestseller-Churchill-Hagiografen als Premier in der Downing Street – die warmen Worte und die Toleranz ganz schnell auf.

Das sind im Vergleich zu den Auslösern der Proteste in den USA wohl ziemlich akademische Hintergründe, aber sie deuten direkt auf die Wurzeln jener sozialen Ungleichheit, die jetzt in Coronazeiten unter anderem zu eklatant höheren Todesraten unter ethnischen Minderheiten in Großbritannien geführt hat.

Schon überhaupt, nachdem erst vor zwei Jahren bekannt wurde, dass britische Steuerzahler*innen bis ins Jahr 2015 für die Rückzahlung von Schulden aus dem Jahr 1835 aufkommen mussten, als der britische Staat mit der damals astronomischen Summe von 20 Millionen Pfund 47.000 Sklavenhändler- und -besitzer*innen für ihr verlorenes, menschliches Eigentum entschädigt hatte.

Zu den damals entschädigten Familien gehörte übrigens auch die Familie des Ex-Premiers David Cameron. Dies nur als Beispiel für den handfesten Zusammenhang zwischen heutigen Familienvermögen und dem mörderischen Rassismus der Vergangenheit.

Die bessere Gesellschaft und ihre Sprachrohre werden sich wohl mit Händen und Füßen dagegen wehren, aber auf den Straßen britischer Städte versammelt sich eine Generation, die diese Wahrheiten nicht länger verdrängen will.

Es stellt sich heraus, black lives matter.

Auch wenn es Jahrhunderte gebraucht hat, bis die Schreie derer, die schon einst in den Sklavenschiffen nicht atmen konnten, endlich ins Bewusstsein dieses Landes durchgedrungen sind.

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