Jehnny Beth „To Love Is To Live“

Heute im FM4-House of Pain: Die Sängerin der Post-Punk-Band Savages hat ihr erstes Soloalbum veröffentlicht.

Von Christian Lehner

Die Popmusik 2020 ist ein grelles Ausleuchten der herrschenden Verhältnisse, oder ein Wegdösen derselbigen. Die sichtbare Variante knallt mit Farben und krassen Szenarien. Oder man spaced sich weg in ein Dream Land jenseits von Körper und Gesellschaft.

Insofern ist das Debütalbum von Jehnny Beth eine unmoderne Angelegenheit. Ihre Farbe bleibt Schwarz. Statt der Behauptung setzt sie ein neugieriges Begehren. Die Geschlechterrollen sind fließend, aber frei von Ideologie. Die Musik ist groß, aber uneitel. Die Songs schlagen kräftig zu und sind doch fragil arrangierte Kunstlieder.

Zwischen Pole-Dancing-Club und Landidyll

„Ich hatte keine Ahnung, was ich machen wollte, nur dass ich etwas machen musste“, sagt Jehnny Beth im FM4-Interview und nennt den Tod ihres Vorbilds David Bowie als Auslöser einer kreativen Kettenreaktion. „Warum so viel Leidenschaft in diesem Album steckt, hat damit zu tun, dass ich keinen Plan hatte. Ich wusste nur, dass ich die Zukunft ausräumen musste. Ich musste mich frei machen von den Verpflichtungen und das hat mich dann auch tatsächlich frei gemacht.“

Zuvor war die Französin die Stimme der britischen Post-Punk-Band Savages. Im Gegensatz zum Gros der männlichen Kollegenschaft im U.K. schielten die Savages nie auf die Charts. Bei den Savages gab es keine eingängigen Riffs und keine gefälligen Hooks. Ihre Songs konnte man kaum mitsingen und trotzdem hinterließen sie bleibende Eindrücke. Aus ihren Shows stieg man wie Khaleesi aus dem Feuerring.

Und doch war das nicht genug. Beth wagte sich mit ihrem privaten und künstlerischen Partner Johnny Hostile an die Aufnahme eines Soundtracks für eine Doku über Chelsea Manning, nahm Angebote als Schauspielerin an und schlüpfte immer wieder in die Rolle der (sehr interessierten) Fragestellerin auf Beats1 und ARTE. Im Juli erscheint mit „Crimes Against Love Memories“ ihr erster Band mit erotischen Kurzgeschichten.

„To Love Is To Live” fackelt jede Streaming-Playlist ab. Dieser Roller-Coaster der Gefühle passt nicht in das enge Korsett gleichförmiger Stimmungskanäle. Beth steht einmal jubilierend auf dem Gipfel, um sich einen Song später in ein kaltes Grab zu legen. Der Sex ist heiß und räkelt sich an einer Pole-Dancing-Stange in Los Angeles. Beth kann aber auch Keuschheit und Selbstdisziplin. Sie stürmt als toxische Männlichkeit durch die dunkle Stadt, nur um ein paar Augenblicke später vom Landidyll zu träumen.

„Ich glaube nicht, dass ich ein Pop-Album gemacht habe. Das wollte ich auch nicht. Es ging mir im Gegenteil darum, möglichst viel Komplexität in die Stücke zu bringen“, so Beth.

Auch die musikalischen Mittel sträuben sich gegen den Zeitgeist. Industrial, Kunstlied, Piano-Ballade, Post-Punk, Spoken-Word und Elektro sind die Scheite, die in der Produktion und den Arrangements von Atticus Ross, Flood und Johnny Hostile die Flammen hochschlagen lassen. Untergeordnete Stimmzugaben kommen von Joe Talbot (Idles), Romy Madley Croft (The xx) und dem Schauspieler Cillian Murphy (u.a. „Peaky Blinders“).

Bei der Produktion orientierte sich Beth an einem R’n’B-Superstar, der ihr bis vor kurzem künstlerisch wenig zusagte: „Beyoncés‘ Überraschungsalbum (von 2013, Anm.) hat die Art und Weise verändert, wie man ein Album schreibt und produziert“, sagt Beth. „Eine Platte entsteht heute mit Hilfe von vielen Produzenten und anderen Kreativen, die ihre künstlerische Vision und ihr Können miteinfließen lassen. Ich habe mich bewusst vom klassischen Band-Gedanken gelöst. Ich wollte etwas Neues ausprobieren und das habe ich durchgezogen.“

Mögen die Sterne auch dunkel schimmern, es lohnt sich doch nach ihnen zu greifen. „To Love Is To Live“ ist defintiv kein Album zum Nebenbei-Hören. Jehnny Beth will eure volle Aufmerksamkeit. Gebt sie ihr.