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Die Pest in London

Daniel Defoes „Die Pest in London“ beschreibt die Gesellschaft in Lockdown und Ausnahmezustand.

Von Boris Jordan

Im September 1664 erreicht zum ersten Mal das Gerücht die Hauptstadt: Aus Holland soll sie eingeschleppt worden sein, von der türkischen Flotte, von levantischen Kaufleuten, vielleicht aber auch aus Zypern.

„Wir hatten an diesen Tagen keine gedruckten Zeitungen oder dergleichen, um Gerüchte oder Berichte über Ereignisse zu verbreiten und sie durch menschliche Erfindung aufzubauschen, wie ich es seitdem habe erfahren müssen. Aber Dinge wie diese wurden aus den Briefen der Kaufleute oder anderer, die einen Briefwechsel mit dem Ausland hatten, entnommen und wurden von diesen von Mund zu Mund weiter gegeben, so dass sie sich nicht, wie heutzutage, augenblicklich über das ganze Land verbreiteten“

Die Pest in London Cover

Jung und Jung

„Die Pest in London“ von Daniel Dafoe ist 2020 in einer Neuauflage in einer Übersetzung von Rudolf Schaller bei Jung und Jung erschienen.

Doch sie kommt. Die Pest in London sollte die erste große Heimsuchung der Beulenpest („bubonic plague“) in England seit 100 Jahren werden, mit 70.000 Todesopfern in London, etwa einem Fünftel der Stadtbevölkerung. Vorher hatte die Pest im 17. Jahrhundert einen Großteil der Bevölkerung Neapels getötet und sich erstmals in Holland ausgebreitet, von wo sie vermutlich nach England gelangt ist. Wien, Prag, Dresden sollten noch im selben Jahrhundert folgen.

1722, im Alter von 62 Jahren bringt der - erst vor kurzem als Autor des Robinson Crusoe berühmt gewordene und in diesem Jahr mit Moll Flanders zu weiterer Berühmtheit gelangte – Daniel Defoe ein Buch mit einem - damals üblichen - sperrigen Titel heraus: „A Journal of the Plague Year: Being Observations or Memorials, Of the Most Remarkable Occurrences, As well Publick as Private, Which happened in London During the last Great Visitation in 1665. Written by a Citizen who continued all the while in London. Never made publick before.“

Zuerst als „Die Pest zu London“ ins Deutsche übersetzt, hat es der Salzburger Jung und Jung Verlag, wohl aus Aktualitätsgründen, unter dem Titel „Die Pest in London“ dieses Frühjahr neu aufgelegt, übersetzt von Rudolf Schaller.

Daniel Defoe selbst hat die Pest als Fünfjähriger miterlebt, den namentlich ungenannt bleibenden Ich-Erzähler des Journal soll er nach seinem Onkel Henry Foe modelliert haben. Von ihm soll es ein „Pesttagebuch“ gegeben haben, welches allerdings nie aufgetaucht ist.

Flucht und Lockdown

Der kalte Winter hält die Pest anfangs im Zaum, doch im Mai des darauf folgenden Jahres 1665 breitet sie sich von den Vororten im Westen der Stadt aus. Das warme Wetter lässt die Todeszahlen westlich der Stadt nach oben schnellen, anfangs werden diese noch gefälscht, es scheint unausweichlich, dass die Pest bald die Stadtmauern überspringen wird. Die Reichen merken es zuerst: Der königliche Hof flieht nach Oxford, die Wohlhabenden ziehen sich auf ihre Landgüter zurück, in der Stadt bleibt nur der Bürgermeister („Lord Mayor“). Die Armen bleiben in der City.

Handel, Handwerk, Schifffahrt kommen vollständig zum Erliegen, ebenso Theater, Possenspiel, Tanz, Glücksspiel. Auch die Gasthäuser werden geschlossen. Einige fliehen auf Schiffe auf der Themse und lassen sich von angeworbenen Arbeitslosen mit Lebensmitteln versorgen. Häuser werden versperrt, sobald in ihnen Anzeichen der Krankheit festgestellt werden, und sie werden von bewaffneten Pestwächtern bewacht – rekrutiert aus entlassenen Bediensteten und arbeitslos gewordenen Handwerkern und Seeleuten.

Der Bruder des Ich-Erzählers, ein gesetzter Kaufmann, der die Welt gesehen hat, erkennt die Gefahr früh und rettet sich mit seiner Familie zu Verwandten. Der Ich-Erzähler, ein frommer, gottesfürchtiger Mann, entschließt sich nach der Lektüre von Psalm 91 - „Ich will sagen vom Herrn, er ist meine Zuversicht und meine Stärke, mein Gott auf den ich baue. Sicherlich wird er dich erretten vor der Schlinge des Voglers und vor der verderblichen Pestilenz,[…] Tausend werden fallen dir zur Seite und zehntausend dir zur rechten; aber dir wird sie nicht nahekommen“ - schicksalsergeben in der City zu bleiben, auf Gott vertrauend und standhaft seinem Schicksal ins Auge blickend.

Aber er ist auch von der Neugier des Chronisten angetrieben: Er trifft zwar selbst alle Vorkehrungen, in seinem Haus bleiben zu können, er bäckt Brot und braut Bier, um die Pest im Haus bleibend aussitzen zu können – dennoch streunt er in der Stadt umher, um die Entwicklungen dieses Sommers beschreiben zu können.

Wahnsinn und Panik

Der Wagen voller Toten bestimmt das Straßenbild, Untergangspanik, Wahnsinn befällt die BewohnerInnen, Gesunde stürzen sich in Pestgruben, Sich-krank-Wähnende springen aus dem Fenster, Schmerzensschreie und Wehklagen zerreißen die gespenstische Stille der untätig gewordenen Stadt, die davor die größte und geschäftigste der Welt war.

Die Eingesperrten erfinden allerlei Tricks und Volten, um trotz der Wächter vor ihrer Tür ihre Häuser noch verlassen zu könne – So tauschen sie Schlösser aus, fliehen über Hinterausgänge und Gärten und spielen den Wächtern und Polizisten auf der Straße allerlei Theater vor, sie seien zuhause oder gesund. Den mangelnden hygienischen und medizinischen Kenntnissen kann man nicht vertrauen, die seit dem 14. Jahrhundert immer irgendwo in Europa grassierende Pest ist ein Nährboden für Weltuntergangsstimmung. Schnell erlebt eine „Fake News“ Industrie Konjunktur: Wahrsager, Astrologen, Quacksalber und Gesundbeter sind die einzigen Hoffnungsgeber der Armen und finden regen Zulauf – sehr zum Missfallen des Ich-Erzählers.

„Ein Unheil führt immer ein anderes herbei: Diese Ängste und Befürchtungen der Leute trieben sie zu tausenderlei absonderlichen, närrischen und verruchten Dingen, wozu sie nicht durch eine Sorte wirklich gottloser Menschen ermutigt zu werden brauchten, und dies war das Umherlaufen zu Wahrsagern, arglistigen Geschöpfen und Astrologen um ihr Schicksal zu erfahren […] Und einige besaßen die Dreistigkeit, ihnen zu erzählen, die Pest sei schon ausgebrochen, was nur zu wahr war, obgleich jene , die das sagten, davon nichts wussten.“

Müßig zu erwähnen, dass die ärgsten Fake News zu allen Pest Zeiten von der Kanzel gepredigt worden waren, unser gläubiger Erzähler spricht selbst von „Gottes Hand“.

Die Ärzte und Priester haben nicht bessere Informationen über die Krankheit und nur wenig fundierte Lösungen für die Stadtbewohner. Eine davon war, alle Hunde und Katzen (und richtigerweise auch alle Mäuse und Ratten) zu töten – Defoe berichtet von 40000 Hunden und fünfmal so vielen Katzen. Eine andere war die bekannte Ausgangssperre für die Infizierten, die die Verbreitung der Pest einschränken sollte - und die Defoe befürwortet (obwohl der Ich-Erzähler sich meist nicht daran hält):

„Wäre nicht dieser besondere Umstand in der Freiheitsbeschränkung der Kranken [..] dann wäre London der grauenhafteste Ort gewesen, den es je in der Welt gab: es wären, soviel ich weiß, ebensoviele Menschen auf den Straßen wie in den Häusern gestorben; denn wenn die Krankheit ihre Krisis erreichte, trieb sie die Kranken gewöhnlich zu Raserei und Fieberwahn, und diesem Zustand waren sie nie anders als durch Gewalt dahin zu bringen, in ihren Betten zu bleiben.“

Daniel Defoe

gemeinfrei

Daniel Defoe, Porträt aus dem 17./18. Jahrhundert.

Defoe vergisst nicht zu erwähnen, dass die Frauen in dieser Zeit, die „waghalsigsten, furchtlosesten und verwegensten Geschöpfe waren“. Er berichtet auch von Pflegerinnen, die furchtlos Patienten bis zum Tod Pflegen, aber auch die Sterbenden beklauten, wenn auch nur „Unbedeutend“. Einen damals bekannten Topos der Krankenpflegerin, die mittels auf das Gesicht aufgelegten, nassen Tüchern eine Art Sterbehilfe leisteten, will er nicht so recht glauben und kann ihn auch nicht mit eigenen Augen bestätigen. Er hält diese Geschichten für eine Art „Fake News“ dieser Zeit.

Die Reichen der Stadt sollen in der schlimmsten Pestzeit reichlich gespendet haben, der König ließ etwa „wöchentlich tausend Pfund“ an die Bevölkerung verteilen. Ein Schelm, wer hier an unsere gegenwärtige Pandemie denkt, in der Reichensteuern tabu bleiben, und etwa die Stadt San Francisco, immerhin Heimat von 75 Dollar Milliardären, gerade mal eine Million an Spenden für den lokalen Relief Fund zusammen bringt.

Eine der vielen Schicksale im Journal dürfte die WienerInnen unter euch an eine berühmte Geschichte aus dem Wien der großen Pest erinnern: Es ist die Geschichte eines betrunkenen Dudelsackpfeifers, der sich eines abends sturzbetrunken auf die Straße legt und einschläft – und prompt schlafend im Pestkarren zu Grube gefahren und beinahe lebendig begraben wird – aber gottseidank vorher unversehrt aufwacht. Ebenso wie den Wiener Sänger Marx Augustin zehn Jahre später, dürfte diesen Glückspilz tatsächlich der Alkohol vor einer Infektion gerettet haben. Von einem berühmten Volkslied, das aus dieser Anekdote entstanden ist, ist leider nichts bekannt.

Ein wirkliches Ende findet die Pest in London dann erst im Herbst des nächsten Jahres durch eine andere Katastrophe: Der „große Brand von London“ im Herbst 1666 kostet zwar nur wenige Menschenleben, es sollen aber rund vier Fünftel der Hauptstadt ein Raub der Flammen werden – und der Großteil der Ratten und Pestflöhe mit ihnen.

Wer nicht nur lesen will: Der deutsche Animationsfilm „Der Perückenmacher“, 1999 für den Oscar nominiert, ist vom „Journal of a Plague Year“ beinflusst. Erzählt wird seine Geschichte von Kenneth Branagh.

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