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Bild von der Black Lives Matter Demo in Wien

APA/HANS PUNZ

Blumenaus 20er-Journal

Keine europäische Überheblichkeit, bitte! Die USA sind und bleiben der globale moralische Kompass

Die #blacklivesmatter-Proteste und die hiesigen Reaktionen verführen dazu alte Klischees vom kulturlosen Ami und dem moralisch überlegenen Europa aufzuwärmen. Dabei ist (siehe Stuttgart) das genaue Gegenteil der Fall.

Von Martin Blumenau

Oberflächen-Informiertheit, egal ob „im Internet“ oder über die verkürzenden Schlagzeilen-Boulevard-Medien legt dieser Tage eine simple Kausal-Kette nahe: die ärgste Nation von allen (USA) mit dem ärgsten strukturellen und auch praktischen Rassismus-Problem von allen und dem ärgsten Umgang damit (Öl ins Feuer, burnin’ and lootin’) diffundiert in ein moralisch-ethisches Chaos.

Anderswo, hier in Europa etwa, sei (insinuiert diese Annahme) der Umgang deutlich differenzierter und zivilisierter, auch weil „unsere“ Probleme längst nicht die von across the atlantic wären, unser Rassismus ein gemäßigterer und unser Bewusstsein ein geschärfteres sei.

Klingt auch deshalb gut, weil es an das Klischee vom lauten, fetten und drüberfahrenden Ami andockt, das durch seinen Präsidenten derzeit perfekt (auch im Wortsinn) verkörpert wird - weshalb weiteres Nachdenken dann aussetzen darf.

Nur: das Gegenteil davon ist wahr.
Den relevanten moralisch-ethischen Diskurs führen nämlich keineswegs „wir“. „Wir“ setzen auch nicht besser um oder ziehen gar schnellere Lehren. Wir rümpfen bloß unser distinguiertes Alte-Welt-Näschen und fühlen uns als was Besseres. Fake News, so bad.

Tatsache ist, dass das massive Rassismus-Problem, mit dem die US-Gesellschaft kämpft, von den europäischen Kolonial-Mächten verursacht wurde, die den Sklavenhandel als einen wichtigen Zweig ihrer Ausbeutung afrikanischer Ressourcen erfunden hatten. Tatsache ist auch, dass der Kampf dagegen zuvorderst von den jungen Vereinigten Staaten geführt wurde, die sich zu diesem Thema sogar einen Bürgerkrieg leisteten. Tatsache ist auch, dass die Robert E. Lee-Denkmäler gefallen sind (ich bin in New Orleans staunend am abgebauten Monument vorbeigefahren), die König Leopold-Denkmäler aber noch stehen.

Apropos Lee: Bob Dylan erzählt 1963 in 11 outlined epitaphs von einem Gespräch mit einem der „sons of Germany“, der Adolf Hitler so begreift „as we here in the states regard Robert E. Lee“, also als unterlegenen Heerführer. Gleichsetzungen wie diese sind Teil des europäischen Selbstbildes, die die eigenen Gräuel (und neben Holocaust/Shoah sind das eben andere, nicht nur von den großen Kolonialmächten, sondern auch von Belgiern oder Deutschen verübte Genozide in Afrika und andere Verbrechen, die heute vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag landen würden) ausblenden und lieber den Genozid an der amerikanischen Urbevölkerung oder eben die Sklaverei so herausstreichen, als wären sie einzigartig. Zufällig heute habe ich von einer kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Aufarbeitung der Schweizer Beteiligung am Sklavenhandel gelesen - denn auch die kleineren europäischen Nationen waren dick drin im barbarischen Business. Eine Arbeit über die Rolle des österreichischen Kaiserreichs wäre in diesem Zusammenhang einmal interessant.

In den USA existiert beides nebeneinander: eine umfassende Aufarbeitung ebenso wie hysterische Leugnung. Für jede Polizei-Einheit, die ihren systemischen Rassismus nicht erkennen kann/mag existiert eine Gruppe/Organisation/Bewegung, die sich präzise auseinandersetzt. Die besten unter ihnen schaffen es sich derartig punktgenau zu artikulieren, dass ihre Slogans und Symbole den weltweiten Diskurs prägen. #blacklivesmatter ist so ein Beispiel; oder der Kniefall des Colin Kaepernick. Worte und Gesten, auf die sich der europäische Protest bezieht und sich im wesentlichen auch erschöpft; Copyright USA, Diskurstreiber USA.

Die Stärke dieser mächtigen Nation liegt nämlich nicht nur in ihrem selbstbesoffenen Glauben an die eigenen Möglichkeiten, sondern auch (und das ebenso strukturell angelegt wie eben auch Rassismus, Ungleichheit und anderer Mist) in der Qualität der Denk- und Handlungsfähigkeit ihrer Diskurs-Combo aus Qualitätsmedien, Qualitätsunis, Qualitäts-Satire und der intellektuellen Kapazität von Menschen aller Schichten, die keine Denkschranken oder unlösbaren Probleme kennen, weil ihnen das von klein auf suggeriert wird. Egal ob Emma Gonzales, Patrisse Khan-Cullors oder die TikTok-Oma, die Trumps Tulsa-Rallye versaut hat.

Europa covert diese Hits, und weil es das ganz ohne eigenes Grundlagen-Modell tut, bleiben die Proteste unter den in den USA geprägten Flaggen reine Hommagen. Um echtes Umdenken erreichen zu können, müsste es nämlich ein Bewusstsein dafür geben, dass „unser“ Rassismus nicht weniger schwer wiegt als der medienmächtig dahertrapsende US-amerikanische; sondern - ganz im Gegenteil - dessen Ursprung darstellt.

Und weil dieser Überbau völlig fehlt, entlädt sich dann in Europas kuscheliger Nippes-Stube Stuttgart die Coverversion als Clockwork-Orange-Parodie, als unpolitischer Social Media-Stunt einer vom Corona-Lockdown angenervten Crowd auf der Suche nach dem Kick, die dank falsch rezipierter (medial aber eben auch höchst unsauber kommunizierter) fuck-the-police-Bilder (die die diskursträchtigen, aber weniger geilen defund-the-police-Proteste überlagert haben) zu einer inhaltlich völlig nichtssagenden Entladung führen.

Das und die an der eigenen Schuld vorbeischielende Pseudo-Unbedarftheit ist moralischer Müll; hier regiert die Verweigerung ethischer Grundsätze.

In den USA mag der Funke schneller entzündet werden, es findet sich aber immer auch ein Gegengewicht. Das Stichwort checks and balances greift nicht nur im politischen System, sondern auch in der Gesellschaftsordnung. Und in den USA gab es die sich mit den Protestierenden solidarisierenden, in Ergriffenheit knieenden Polizist*innen. Bei uns undenkbar.

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