Dritter Lesetag um den Bachmannpreis, ein bisschen Furore und herausragendes Kopfkino
Von Maria Motter
„Gebenedeit“ ist die Band von Lydia Haider und sie singt in ihrem Videoporträt „eine Missgeburt Gottes bist du“ zu Orgelsound. „Lyrikband“ kann in ihrem Fall englisch und deutsch gelesen werden. Im Vorstellungsvideo zeigt sie verschiedene Fotografien von sich, auf einem trägt sie ein T-Shirt mit einer Zeichnung von Stefanie Sargnagel. Die beiden sind Mitglieder der Burschenschaft Hysteria, sie teilen einen Shitstorm um die Behauptung einer getretenen Babykatze.
Live auf 3Sat und bachmannpreis.orf.at, 17. bis 21. Juni 2020.
Und auch das Publikum kann mitbestimmen, wer ausgezeichnet wird: Das Voting für den Publikumspreis läuft heute, 20. Juni, von 15.00 bis 20.00 Uhr.
Brachial sind die vorgetragenen Ansagen und Weltanschauungen in Lydia Haiders Text „Der große Gruß“: Eine Gang in Wien schlachtet und knallt darin Hunde und Schweine ab. So klingt das: „da machen wir ein Späßchen kannst Tänzchen nennen wenn man will um so eine Hundskreatur der Klan sehr rhythmisch auch ohne Musik umkreisend kommt ein Feuer drin in den Sinn, geht’s wie im Tagada, ruft auch jemand aus zur Motivation des Ganzen“
Philipp Tingler, der Neue in der Jury, wendet sich an die Autorin direkt, weil er wissen will, welches Anliegen der Text hat. Ein traditionelles No-Go, Juryvorsitzender Hubert Winkels unterbindet jegliche Antwortmöglichkeit sofort: „Herr Tingler, wir sind eigentlich dazu da, diese Frage zu beantworten! Das ist ja der Horror jeder Buchhandlungslesung!“ Tingler ist eine Gang für sich.
so viel Verwirrung hat der Text nicht verdient, sintemal es ja eine langbekannte und reiche Tradition gibt, aus der er kommt #tddl
— clemens setz (@clemensetz) 20. Juni 2020
Nicht ganz so wie im Tagada geht es am Ende der Jury-Diskussion zu. Das Schlusswort beansprucht die Autorin Lydia Haider. In den vergangenen Jahren war es zur Tradition geworden, dass Autor*innen die Jurydiskussion ohne Widerrede oder Einmischung verfolgen. Zum ordentlich Aufmischen des Bewerbs reicht Haiders Zugabe nicht. Juror Klaus Kastberger verwies auf die Band „gebenedeit“ und hätte sich mehr von deren Sound im Text gewünscht.

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Lydia Haider mit Freund*innen
Bachmannpreis-Teilnehmerin Hanna Herbst hat gestern Nachmittag gleich noch ein Lied gemacht. Nachdem die Juroren Winkels und Tingler die Vermutung ausgesprochen hatten, dass ihr Text „gefaket“ sein könnte. Doch wie soll „gefaket“ verstanden werden, das ist ein befremdlicher Vorwurf bei einem Bewerb für - literarische - Prosatexte, die sich doch durch Fiktionalität kennzeichnen können/dürfen/sollen.
Ein Teil der #tddl-Jury dachte heute, meine Teilnahme sei vielleicht nur ein Experiment. Also dachte ich: Besser keine ironischen Lieder mehr, sonst nimmt mich ja keiner mehr ernst. Ich hab mich dann doch anders entschieden: https://t.co/l0Z5YqQFC2
— Hanna Herbst (@HHumorlos) 19. Juni 2020
Richtung Apokalypse mit Feldmäusen, Richtung Bachmannpreis
Das Fenster zum Lichthof, dazu eine Orange, ein Aschenbecher und ein Glas mit Wasser am Fensterbrett – das sind die Requisiten des wortlosen Videoporträts von Laura Freudenthaler. Noch während man es sieht, vergisst man es. Ein guter Trick, weil nach diesem Pausenfilm ist man bereit für die nächste Lesung.

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Laura Freudenthaler in der Aufnahmesituation: Die Lesungen sind für die Bachmannpreis Spezial Edition dieses Jahr aufgezeichnet, um für alle Teilnehmenden faire Bedingungen zu schaffen
In ihrem Text „Der heißeste Sommer“ schwillt mit jedem Umblättern das Unglück an über einem Ort am Land: Eine Mäuseplage, ein Virus bedrohen nicht nur die Ich-Erzählerin, die das Geschehen dokumentiert. Nervengift in die Erde, Explosionen, „aus dem Erdfeuer wird ein Lauffeuer“. Dystopische Zustände sind im Anrollen, aber noch sind Erntehelfer auf den Feldern.
Der Text kommuniziere auf nonverbale Weise und er sei eine Wucht, bemerkt Insa Wilke und das ist das größte Kompliment, das ein Text dieses Jahr bekommt. Man stellt zwischen Mäusen Weltbrände her, kritisiert Hubert Winkler. Für Klaus Kastberger kommt man mit Freudenthalers Text so nah an die Namenspatronin des Bewerbs und zwar wie selten jemals in vergangenen Jahren. Und er sagt: „Wenn Laura Freudenthaler und dieser Text eine Aktie wären, würde ich darauf wetten, dass das eine der Shooting-Stars und der aufkommenden Kräfte in der deutschsprachigen Literatur sein wird. Vielleicht freut sich auch Heinz Sichrovsky draußen im Regen“.
Im Garten spricht der Kulturjournalist Heinz Sichrovsky. Leider wird es auch heute keine „Mittagspause“ - wie der Sendungsteil zwischen den Lesungen mittags öfter bezeichnet wird-, ohne dass jemand das N-Wort sagt, um sich super sprachsensibel zu geben.
Auch an dieser Stelle wieder der Hinweis auf die diesjährige Klagenfurter Rede zur Literatur von Sharon Dodua Otoo.
Sharon Dodua Otoo hat den Bachmannpreis 2016 gewonnen. Als Favoritinnen für den diesjährigen Hauptpreis sind Helga Schubert und Laura Freudenthaler notiert.
Diese Ausgabe des 2016 prämierten Textes von @SharonDoduaOtoo zeigt auch, wie schön man Taschenbücher gestalten kann. #tddl pic.twitter.com/uzMPEtjgRL
— Martin Kraetke (@mkraetke) 20. Juni 2020
Heute, Samstag, gibt es bis 20.00 Uhr das Publikums-Voting. Gefragt ist auch eine Begründung für die jeweilige Entscheidung. Der Künstler und Autor Jörg Piringer hat einen „Begründungstextgenerator“ geschrieben, weshalb man für seinen Text abstimmt.
Morgen werden die Preise beim Bachmannpreis 2020 verliehen. Dann geht vielleicht auch wieder das Licht an im Studio. Optisch war das eher düster, dafür technisch großartig. Auch Autorin Katja Schönherr lässt uns kurz hinter die Kulissen blicken:
Vorbereitung... #tddl pic.twitter.com/MJ8V63DhSK
— Katja Schönherr (@KatjaSchoenherr) 17. Juni 2020
In Katja Schönherrs Text „Ziva“ trifft dann noch eine zentraleuropäische Kleinfamilie auf Orang-Utans, also wörtlich übersetzt Waldmenschen, im Zoo. Kurze Zeit später zieht es die Ich-Erzählerin noch einmal zum Affenhaus, im Affenkostüm.
„Manchmal beobachte ich so lange, bis ich glaube, unsichtbar zu sein“, sagt Meral Kureyshi in ihrem Videoporträt. Die Sekunde zuvor hat sie noch in einem Zimmer getanzt und gelacht. Es spielt alle Jahreszeiten in dieser Home-Video-Montage. Und Meral Kureyshi sagt den schönen Satz: „Deutsch ist meine Muttersprache. Meine Mutter spricht kein Deutsch“.
Die Erwartungen zu erfüllen, die so eine Vorstellung auslöst, ist keine leichte Angelegenheit. Meral Kureyshis Coming-of-Age-Geschichte „Adam“ konnten Hubert Winkels, Philipp Tingler und Michael Wiederstein am meisten abgewinnen.
Zusammenfassend gesprochen halte ich Literatur für eine kecke Kunstform #tddl
— Sophie Paßmann (@SophiePassmann) 20. Juni 2020
Publiziert am 20.06.2020