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Covid Test

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Brexit-Deadline: Liegestütze und ein Tropfen Blut

Während die britische Krise zum kommenden Boom erklärt wird, verstreicht morgen die letzte Deadline zur Verlängerung der einst so vieldiskutierten Übergangsperiode. Und niemand schaut hin. Tut mir leid, aber wir müssen wieder über den Br*x*t reden.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Danke an die Redaktion für den Luxus, hier zwischendurch auch einmal schweigen zu können, wenn’s besser so ist. Es ereigneten sich da ein paar Sachen hier drüben, die habt ihr zurecht versäumt, seit ich das letzte Mal über den Statuensturz in Bristol schrieb.

Es war deprimierend genug zu sehen, wie viele sonst kluge Menschen hier und bei euch mitten in die Nebelgranaten kultureller Ablenkungsgefechte liefen (Little Britain, Fawlty Towers, JK Rowling...), ohne meinen eigenen Take dazu beizusteuern.

Deprimierend genug, das todernste Thema der Sabotage des britischen Lockdowns und die daraus resultierenden Bilder überfüllter Strände als Schlachtfeld für verdeckten und offenen Klassismus missbraucht zu sehen.

Und zu erleben, wie selbst die Zählung der Toten – sind es noch über 43.500 oder 65.000? oder mehr? - mittlerweile bis zur Bedeutungslosigkeit verwässert wurde (inzwischen gibt es übrigens bereits den ersten neu verhängten lokalen Lockdown in Leicester, aber am Samstag dürfen die Pubs aufsperren).

Deprimierend genug, zu verfolgen, wie rund um den Rauswurf der Corbynistin Rebecca Long-Bailey durch Labour-Chef Keir Starmer sowohl von der Linken als auch den Zentrist*innen wieder einmal anderer Menschen existenzielle Themen wie Black Lives Matter, der Antisemitismus und der Konflikt um die israelische Politik der Besetzung palästinensischer Gebiete als Munition für einen internen Fraktionskampf der Labour Party (bzw. deren laufende Toxifizierung von außen) missbraucht wurden.

Die Tatsache, dass „to both sides“ in sozialen Medien bereits als abschätziges Verb zur Verhinderung jeder ernsthaften Diskussion gebraucht wird, könnte einem dabei glatt das letzte bisschen Hoffnung rauben.

Covid Test kit

Robert Rotifer

Zwischendurch hab ich auf Zufallseinladung des Gesundheitssystems auch noch an einem Covid-Antikörper-Test teilgenommen, der medial vielerorts als unverlässlich bis sinnlos eingestuft wurde.

Ergebnis negativ, obwohl ich mir ja ziemlich sicher gewesen war, dem Virus schon im Jänner zwei doch eher höllische Fieberwochen geschenkt zu haben.

Soll sein, es hat mich (einstweilen) nur einen Tropfen Blut gekostet.

Corona Antikörper Selbsttest

Robert Rotifer

All das und mehr also habe ich hier ausgelassen und derweilen wider jede Vernunft trotz immer noch bestehender zweiwöchiger Quarantäne bei Rückkehr ins UK einem Konzert zuliebe eine Reise nach Wien gebucht (29. Juli, falls es jemand interessiert, genug der Eigenwerbung).

Covid Test

Robert Rotifer

Heute aber gibt es hier was festzuhalten, von dem fast gar nichts zu lesen oder zu hören ist.

Es hilft tatsächlich nichts, ich muss zu dem Thema zurückkehren, um das seit vier Jahren die meisten dieser Kolumnen kreisen.

Morgen, am 30. Juni, nämlich läuft die Frist für einen Antrag auf Verlängerung der Übergangsperiode nach dem mit Februar pro forma vollzogenen Br*x*t aus.
Und niemand hat was dazu zu sagen.

Nach Jahren der Behauptungen, die deutschen Autohersteller würden schon noch ein Handelsabkommen mit der EU erwirken, gibt es bis auf einen Artikel im leicht ignorierten Guardian null öffentliche Aufmerksamkeit für gänzlich konträre Töne aus Berlin.

Es gibt keine Diskussion mehr dazu, einfach weil es keine geben darf. Ein Land läuft schnurstracks gegen die Wand und will nichts mehr davon hören, bis das Nasenbein bricht.

Noch weiß niemand, wie verheerend die ökonomischen Auswirkungen der Coronakrise in Großbritannien wirklich ausfallen, wie viele Millionen neuer Arbeitsloser es geben, wie viele Existenzen ruiniert sein werden.

Das hinderte die regierungstreuen Kampfblätter in ihren gestrigen Sonntagsausgaben freilich nicht daran, bereits Verheißungen eines kommenden Booms von ihren Titelblättern zu verkünden, illustriert mit dem Bild eines Liegestützen machenden Boris Johnson.

Titelseite der Mail on Sunday. Boris Johnson macht Liegestützen, Überschrift: "Billions to get Britain Booming"

The Mail on Sunday

Um nur einmal kurz auf die Mikroperspektive meiner kleinen Branche reinzuzoomen: Während in Großbritannien, das sich jahrzehntelang mit seinen Cultural Industries brüstete, die Musiklokale und Theater im Regen stehen gelassen werden, erschien gerade der erste Band eines tieftraurigen dicken Schmökers namens London’s Lost Music Venues als Begleitbuch zum Sterben der Londoner Live-Szene, noch unter prä-Covid- und prä-Brexit-Bedingungen.

Eine Fortsetzung ist bereits in Arbeit, und wer weiß, wie dick Band drei ausfallen wird, falls dann noch jemand Geld zum Bücherkaufen haben sollte.

Cover des Buchs London's Lost Music Venues

Robert Rotifer

Angesichts all dessen spricht nun auch gar keine*r mehr vom herannahenden Desaster der Visumpflicht für Musiker*innen, weil die Kapazität zur Wahrnehmung von Katastrophenszenarien offenbar irgendwann einmal ausgeschöpft ist.

Ja, um es gar nicht so überspitzt zu sagen: Falls noch jemand glaubt, dass die Dringlichkeit der Lage irgendwann die nötige radikale Reaktion auf die globale Erhitzung unausweichlich machen wird, empfehle ich das kollektive Wegschauen Großbritanniens von den vier Jahre lang aufgeschobenen Konsequenzen des Brexit als real existierende Gegenthese.

Die von der aus einer toxischen Mischung aus Boris Johnsons Midlife Crisis und seines Beraters Dominic Cummings’ Spätpubertät bestimmte, charakteristisch verantwortungslose Ratio der Downing Street scheint vielmehr zu sein, dass die eine Krise sich vom Elend der anderen tarnen lassen wird.

Heute wird also nach Monaten Pause in Brüssel erstmals wieder in Person und nicht per Video-Link verhandelt, aber die Hintergrundmusik dazu inspiriert alles andere als Optimismus.

Im Dezember gewann Boris Johnson die Unterhauswahlen mit der dreisten Lüge von einem „ofenfertigen“ Brexit-Deal, nur um seither die Eckpfeiler der zugehörigen politischen Absichtserklärung zu demontieren und stattdessen – so wie er das schon im Februar tat - von einem Handelsabkommen ähnlich dem zwischen der EU und Australien zu schwadronieren - das allerdings nicht existiert.

Sprich: Anstatt ein Scheitern zu vermeiden, bereitet man den Verkauf dieses Scheiterns als Erfolg vor.

Und heute schmiss Johnson nicht bloß als arbiträr trumpeske Geste mitten in einer Krise seinen obersten Beamten Mark Sedwill raus, er ernannte auch noch den Brexit-Chefverhandler David Frost zu dessen Nachfolger als National Security Advisor.

Als gut sichtbares Zeichen, wie wenig ernst er Frosts bisherigen Hauptjob nimmt.

Einstweilen stufen laut Bericht der Financial Times Analysten der Bank of America bereits das britische Pfund zu einer emerging market currency herab, und selbst das erscheint noch als Euphemismus, schließlich ist der britische Markt ja eher mutwillig submerging als emerging.

Vor zwei Wochen oder so bin ich einmal um drei in der Früh vor laufendem Fernseher aufgewacht und sah auf dem Parlament Channel der BBC, wie das nach Jahren der Pausierung wieder sitzende nordirische Lokalparlament in Stormont mehrheitlich für eine Verlängerung der Übergangsperiode stimmte.
Andernfalls hätte ich nie davon erfahren. Dasselbe geschah in Schottland, beides ignoriert vom medialen Geschehen in Westminster, eine Zeitbombe, die spätestens Anfang 2021 das Vereinigte Königreich zerreißen könnte.

Natürlich war es in diesem Kontext auch bloß wieder eine zur Beschäftigung der Empörungswilligen abgefeuerte Nebelgranate, wenn Boris Johnson für umgerechnet runde 970.000 Euro (vor einer Woche wär’s noch eine Million gewesen) das ihm von der Royal Air Force für Dienstreisen zur Verfügung gestellte Flugzeug (ironischerweise ein in EU-Kooperation hergestellter Airbus) umlackieren ließ.

Von grau auf rotweißblau, mit „UNITED KINGDOM“ in fetten Goldlettern drauf, wie das Namensschild eines zwielichtigen Vorstadt-Pubs.

Aber irgendwas Zerstreuendes muss ich euch hier schließlich auch noch bieten.

Die Deadline also, die wird morgen verstreichen. Und hier zumindest war davon zu lesen.

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