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Frauen in Ballkleidern

CC0/Pixabay

„Die Tanzenden“ ist ein historischer Roman über Frauensolidarität

Victoria Mas’ Debütroman begleitet das Schicksal von drei Pariser Frauen im späten 19. Jahrhundert. Sie haben kaum Gemeinsamkeiten, außer dass ihr Lebensmittelpunkt die Nervenheilanstalt für Geisteskranke ist.

Von Alica Ouschan

Mitten in Paris gibt es die Salpêtrière, ein großes Krankenhaus, in dem bis ins späte 19. Jahrhundert die bekannteste psychiatrische Anstalt in ganz Europa stationiert war. Die Ärzte Jean-Martin Charcot und Sigmund Freud haben sich dort kennengelernt und über Hypnose und Hysterie geforscht.

Eine wichtige Personengruppe, die in vielen Geschichtsbüchern oft weggelassen wird, sind die Frauen in der Nervenheilanstalt, die nicht selten die Versuchsobjekte derartiger Forschung waren. Sogenannte Hysterikerinnen, Epileptikerinnen und unangepasste Frauen, Obdachlose und Sexarbeiter*innen, die in der Gesellschaft keinen Platz hatten, aber auch wohlhabende Frauen, die ihren Ehemännern und Vätern zu selbstbestimmt waren, wurden in die Pariser Salpêtrière gebracht. Dabei reichte es oftmals schon, wenn sie wissenschaftlich interessiert waren, in der Öffentlichkeit lesen oder Ärztin werden wollten, um sie als „geisteskrank“ zu diagnostizieren und wegzusperren zu lassen.

Gefangene statt Patientinnen

In der Salpêtrière wurden die Frauen eher wie Gefangene denn als Patientinnen behandelt und regelmäßig als Versuchsobjekte für fragwürdige neue Heilmethoden missbraucht.

„Was zu Beginn wie eine simple Hypnosedemonstration daherkam, verwandelt sich nach und nach in eine spektakuläre Vorführung. Ganz von sich aus beginnt sie zu zucken, verrenkt Arme und Beine, wälzt ihren Körper hin und her, Füße und Hände verkrampfen sich, ihr zu einem umgekehrten U geformter Rücken knackt unter der Anstrengung. Nach diesem künstlich erzeugten Anfall bricht sie unter den verblüfften Blicken schließlich mit einem dumpfen Geräusch zusammen. Patientinnen wie Louise ist es zu verdanken, dass Medizin und Wissenschaft Fortschritte machen.“

Die französische Autorin Victoria Mas hat ihren Debütroman ebendiesen Frauen gewidmet, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden, weil sie in der damaligen Vorstellung nicht dem Rollenbild einer Frau entsprachen. Die Nervenheilanstalt für Geisteskranke ist der Schauplatz des Romans und der Lebensmittelpunkt der drei Figuren, um die sich die Handlung dreht: Louise, das Lieblingsversuchskaninchen vom Chefarzt, die dienstälteste Krankenschwester Geneviève und Eugénie, eine junge Frau aus gutem Hause, die zu Beginn der Geschichte in die Anstalt eingeliefert wird, weil sie das Bild ihrer perfekten Familie stört.

Geisteskranke als Entertainment für die Elite

Als Eugénie dort ankommt, sind die Vorbereitungen für das Event des Jahres gerade in vollem Gange: „Der Ball der Verrückten“ wird jedes Jahr zu Mitfasten veranstaltet. Es ist die Nacht, in der sich die feine Pariser Elite in die Nervenheilanstalt bequemt, um sich die Irren aus nächster Nähe anzusehen.

„Im Schlafsaal ist die junge Frau überrascht von der Stimmung, die an diesem morgen herrscht. Auf den Betten lagern Stoffe und Spitzen, Federn und Rüschen, Handschuhe und Halbfingerhandschuhe, Kopfschmuck und Schleiertücher. Die Geisteskranken haben ihre Beschäftigung vom Vortag wieder aufgenommen, sie nähen und plissieren eifrig, stolzieren mit ihren bunten Kostümen herum, lassen Kleider aufwirbeln, streiten um ein Stück Stoff. Der unaufhörliche Lärm all dieser aufgeregten Stimmen macht einen beinahe trunken, sodass man sich auf den ersten Blick weniger in einem Krankenhaus wähnt als in einem Paradies für Frauen.“

Inmitten dieses bunten Spektakels verschwestern sich durch unvorhersehbare Umstände Frauen miteinander, die eigentlich nichts gemeinsam haben und werden im Lauf der Geschichte zu Komplizinnen mit dem Ziel sich gegenseitig zu einem selbstbestimmten Leben in Freiheit zu verhelfen.

Buchcover

Piper Verlag

„Die Tanzenden“ von Victoria Mas hat 240 Seiten und ist im Piper Verlag erschienen. Julia Schoch hat das Buch aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt.

Traurige Schicksale & lebendige Erzählungen

„Die Tanzenden“ ruft Teile der unangenehmen Vergangenheit in Erinnerung, die allzuoft vergessen und verdrängt wird. Autorin Victoria Mas erzählt Geschichten aus einer Zeit, in der es ganz alltäglich war, Frauen mit psychischen Leiden nicht zu helfen, sondern sie einzusperren, an ihnen herumzuexperimentiern und sie vorzuführen wie Tiere im Zirkus.

Etwas, das heutzutage unvorstellbar klingt, wird umso erschreckender und realer, wenn man bedenkt, dass 1885 dann doch gar nicht mal so lange her ist und es damals selbstverständlicher Bestandteil des gehobenen gesellschaftlichen Pariser Lebensstils war, die eigene aufsässige Tochter, Verlobte oder Mutter der gemeinsamen Kinder in eine geschlossene Anstalt zu bringen, weil sie einem zu anstrengend, zu hysterisch oder zu selbstbestimmt wurde.

Trotz der belastenden Thematik erschafft Victoria Mas in ihrem Debütroman ein angenehm schwereloses Leseerlebnis. Durch einen leicht verständlichen, lebendigen Erzählstil bringt die Autorin die traurigen Schicksale der Frauen beeindruckend lebhaft aufs Papier.

Ein übernatürlicher (und unnötiger) Plot-Twist

„Die Tanzenden“ ist ein gut recherchierter, historischer Roman mit einer kurzweiligen, federleicht erzählten Handlung, bei der lediglich eine Sache als Störfaktor auftaucht: Ein übernatürlicher Plot-Twist überdeckt von Beginn an die eigentliche Story. Ohne zu viel zu spoilern: Wer mit Esoterik und Paranormalem nicht allzuviel anfangen kann und sich eine wahre Geschichte über Courage und Frauensolidarität erwartet, wird vermutlich enttäuscht sein.

Dass „Die Tanzenden“ unterhaltend und lesenswert ist, weil das Buch einen realistischen Einblick in damalige Zustände sowie vor der Gesellschaft versteckte Frauenschicksale und die dadurch entstandene Solidarität zwischen Frauen bietet, bleibt außer Frage. Trotzdem ist es irgendwie schade, dass diese derartig realistisch wirkende Geschichte nicht ohne einen unrealistischen Handlungsstrang erzählt wurde. Dieser Umstand lässt einen nicht nur die Wahrhaftigkeit der Erzählung hinterfragen, sondern lenkt auch die Aufmerksamkeit eindeutig von der wichtigen Message weg, die eigentlich ungestört im Mittelpunkt stehen sollte: Mut zur Emanzipation und Solidarität mit allen Frauen.

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