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Ein Glas Bier

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Off (with) their heads - Ein jeder Rausch ist nicht der gleiche

Geselliges Biertrinken ist gut, Raven ist böse. Was uns die Coronakrise über die Werte der britischen Gesellschaft lehrt.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ich kann mich noch erinnern, als ich das erste Mal den großen Punk-Chronisten Jon Savage interviewte, es ist einige Jahre her. Ich sollte einen Treffpunkt irgendwo in St. Giles vorschlagen, also entschied ich mich für The Angel, ein Pub ohne Musik und Fußball und suchte mir zur ausgemachten Zeit einen Tisch. Savage erschien mit steinern steifer Miene, setzte sich mir gegenüber und begann das Gespräch gleich mit einer Tirade darüber, wie sehr er Pubs hasse. Wie sehr Pubs alles repräsentieren, das er an England nicht leiden könne.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ich äußerte Bedauern, verlegen an meinem Bier süffelnd, „Ich wusste nicht...“

„Nein, kein Grund zur Entschuldigung“, sagte Savage, „Es ist gut. Man soll sich im Leben immer herausfordern. Und Sie haben mich dazu gebracht, hier reinzugehen, wo ich sonst nie reingegangen wäre. Das ist eine gute Sache.“

Von da an lief alles gut, ich muss aber jedesmal dran denken, wenn ich in ein Pub gehe (deutsche Leser*innen können sich ihr Maskulinum für Pub mitdenken, bei „uns“ ist es „das Pub“).

Ein Pub ist ein kultureller Schau- und Kampfplatz, an dem man sich zu Hause fühlt oder eben nicht.

Dass Savage das grundsätzlich nicht tut, hat wohl damit zu tun, dass er es als offen schwuler Mann mit einem Mittelklasseakzent in der von gefaketen Working Class-Akzenten beherrschten, vor Homophobie kaum gefeiten No-Nonsense-Welt der Londoner Punk-Szene auch nicht immer leicht hatte. Der ebenfalls dem Punk-Ethos entsprechende Durchsetzungsmechanismus des demonstrativen „not giving a shit“ half andererseits wiederum Freaks wie ihm, einige Türen aufzuzwingen. Das ist die andere, für nachfolgende Generationen lehrreiche Seite jener Geschichte.

Als einer, der Peckinpahs „Straw Dogs“ noch vor der berüchtigten Vergewaltigungsszene abgedreht hat, muss ich ja sagen, dass mir die Szenen im Dorf-Pub allein schon genug Angst einjagten. Die Zeit, als Frauen alleine kein Pub betreten konnten, ist noch nicht so lange vorbei, genauso wie die berüchtigten Schilder „No Blacks, No Irish, No Dogs“ an den Eingangstüren.

Als ich vor 16 Jahren in Canterbury ankam, waren im Pub in meiner Straße keine Soldat*innen zugelassen (weil jene den Ruf hatten, Schlägereien zu verursachen, eine erstaunliche Diskriminierung war es aber trotzdem, zumal man ja immer so stolz auf seine „Boys“, Verzeihung „boys & girls“ in Uniform zu sein vorgibt).

Und trotzdem gibt es Pubs, die gehören zu meinen liebsten Orten der Welt. Die sind das genaue Gegenteil von allem oben beschriebenen, nämlich seelenwärmende Wohnzimmer der Inklusivität, auch wenn sie von außen (fast) völlig gleich aussehen.

Die guten von den unangenehmen Pubs zu unterscheiden, lernt man durch Erfahrung, per Empfehlung durch Freund*innen bzw. im Selbstversuch. Und da haben wir noch gar nicht einmal vom Bier gesprochen (das wär hier jetzt auch zu lang).

Eine Flasche Bier mit Glas

Robert Rotifer

Bier.

Ich trinke es gerne, aber ich weiß natürlich, Bier ist - passend zu seiner Heimat, dem Pub - ein traditionell maskulin aufgeladenes, kulturelles Kampfgetränk. Hier genauso wie bei euch.

Wiewohl man es hierzulande nicht in Zelten trinkt, führt auch bei britischen Politiker*innen der direkte Weg zur Volksverbundenheit übers Bier.

Und, um endlich zum Thema dieser Kolumne hier zu kommen, deshalb hatten wir letzten Samstag „Super Saturday“, den Tag, an dem die Pubs wieder aufsperrten. Eigentlich hatten sie es ja als „Independence Day“ angekündigt, von wegen 4. Juli, aber vielleicht hat irgendjemand den selbsternannten Historiker Johnson daran erinnert, von wem sich die Amerikaner*innen damals unabhängig machten.

Ich nehme an, die Bilder der Biertrinkenden an der Old Compton Street sind um die Welt gegangen und damit auch an euch vorüber gezogen.

Die Twittermeinung in meiner Blase dazu war, dass die Regierung nur wolle, dass wir uns über diese Bilder aufregen, damit wir dem wilden Pöbel die Schuld an der Krise geben.

Ich glaub das ja nicht wirklich. Ich glaube, die Wahrheit ist viel primitiver: Sie wollen einfach, dass wir trinken. Trinken um zu vergessen.

Die britische olympische Läuferin Bianca Williams und ihr Partner, der portugiesische Athlet Ricardo Dos Santos werden mit ihrem Auto von der Londoner Polizei aufgehalten, weil er am Steuer so aussehe, „wie jemand, den wir suchen“ (sprich: er hat dunkle Hautfarbe, und kombiniert mit schwarzem Mercedes ergibt das den Stereotyp Drogendealer). Die beiden werden aus dem Wagen geholt und in Handschellen gelegt, während ihr drei Monate altes Baby allein im Kindersitz zurückbleibt.

„Ein Bier bitte.“

Boris Johnson schiebt in einem Interview die Schuld für die hohe Corona-Todesrate in Pflegeheimen auf unterbezahlte Pfleger*innen, die nicht die vorgeschriebenen Prozeduren befolgt hätten. Obwohl die Regierung für Pflegeheime bekanntlich keinen Plan hatte, keine Tests anbot und sogar infizierte Patient*innen aus Krankenhäusern zurück in die Heime schickte.

„Gleich noch eins, bitte.“

Nachdem über Jahre behauptet wurde, es werde GANZ SICHER keine Zollgrenze zwischen Nordirland und Irland, und schon gar keine zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland geben, hat die jetzt offen auf einen harten Brexit ohne Deal zusteuernde britische Regierung bei der EU die Errichtung von Grenzposten beantragt. Wovon allerdings nur die nordirischen Regionalnachrichten berichten.

„...daher hatte ich davon eigentlich gar nichts gehört, aber eins geht noch, so oder so.“

Um das klarzustellen, ich hab ja nichts gegen Berauschen zum Vergessen. Vorgestern Abend zum Beispiel begegnete ich im Supermarkt Sergej, den ich als Vater von Ex-Klassenkameraden meines Sohnes kenne. Sergej sah sehr fertig aus, und er hatte vier Bier in der Hand. Schuld an ersterem war aber nicht zweiteres, sondern die Tatsache, dass Sergej als Anästhesist im örtlichen Krankenhaus arbeitet. Den Aufmunterungen der Regierung nach würde man das zwar kaum glauben, aber die Sache mit dem Coronavirus ist eigentlich noch ziemlich im Gange (gestern wurden immerhin 155 neue Todesfälle gezählt, was schon lange keine Schlagzeile oder Pressekonferenz mehr wert ist), und es gibt einen großen Rückstau verschobener Operationen nachzuholen.
Am Ende eines solchen Tages, sagte Sergej, „brauche ich das.“ Und deutete dabei auf die vier Biere.

Belgische.

Da hab ich aus Solidarität auch gleich zwei gekauft. Man muss nämlich nicht unbedingt ins Pub gehen, um zu vergessen.

Was mir dann allerdings schließlich schon aufstößt (englisches Ale hat deutlich weniger Kohlensäure als belgisches Bier):

Während wir alle hier in patriotischem Eifer dem Kult des Bieres frönen, wurde gleichzeitig in den letzten drei, vier Wochen ein alter Dämon wieder ausgemottet: Die illegale Rave-Kultur. Ja, es ist über 30 Jahre her, seit rund um Londons Stadtumfahrung, die M25, die Leute zu – wie es das Gesetz damals formulierte - „repetitive beats“ tanzten und damit die britische Zivilisation bedrohten, und jetzt ist es wieder so weit.

„It’s going to get so much worse“, titelte selbst der besonnene Guardian (nicht ohne Grund Quelle fast sämtlicher Hyperlinks in meinen Blogs), die wie immer peppigere Online-Version machte daraus gleich “Off their heads: The shocking return of the rave“, und der zugehörige Artikel erzählte von 4000 Raver*innen in Daisy Hook nahe Manchester, anderen Tausenden in Feldern nahe Liverpool und Bristol und von „kriminellen“ Kreisen, die das alles organisieren und dafür auch noch Geld(!) verlangen.

Zeitungsartikel "It's Going To Get So Much Worse" aus dem Guardian

Robert Rotifer

Ja schlimm, und ich möchte auch nicht der/die Anrainer*in sein, der/die am Morgen danach die Meere von Lachgaskapseln aufsammelt, ganz zu schweigen von sonstigem Müll, Fäkalien und dergleichen, alles Beweis einer Einstellung, die sich laut Artikel völlig konträr zu den von guten Seelen und friedlichem Geist (und etwas MDMA) beflügelten Original-Raves verhalte, nach denen immer schön zusammengeräumt wurde (wo und wie gingen eigentlich die Original-Raver*innen aufs Klo?).

Aber ich vergleiche das mit den Szenen des Super Saturday, und ich glaube nicht wirklich, dass da mehr Social Distancing betrieben wurde als bei den Corona Raves. Bloß ging es da eben um Alkohol, und die feuchte, tröpfchentriefende Fröhlichkeit war staatlich geduldet, ja ermutigt.

Und während im mittlerweile praktisch durchgehend gentrifizierten Soho die Meute feierte und die Polizei sich dazu eine Art Jägerstand als sanften Beobachtungsposten einrichtete, wurden in anderen Teilen Londons illegale Raves von der Riot Police gewaltsam aufgelöst.

Und zwar in Notting Hill, in Brixton und in Tottenham. Für Leute, die sich ein bisschen in der Stadt auskennen, liest sich das schnell erkennbar als eine Liste jener Stadtteile, die in den letzten 60 Jahren a) historische bis aktuelle Zentren der karibischen Einwanderung bzw. des afrokaribisch verwurzelten London und b) Schauplätze von sogenannten „race riots“ waren bzw. sind.

Somit erklärt sich auch, wie die Exekutive darauf reagierte, dass dort auf den Straßen getanzt wurde. Denn des einen Independence Day ist des anderen illegaler Aufruhr. Kommt immer darauf an, wer sich da wo berauscht. Und auch womit (Bier gut, anderes nicht).

Keine Entschuldigung und keine Frage, die Coronakrise ist ein anhaltendes Desaster, und beide Arten der Enthemmung werden sie weiter befördern und Menschenleben fordern.

Aber sie hat es so an sich, verhüllte und verdrängte Seiten der britischen Gesellschaft brutal offen sichtbar zu machen.

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