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Autor Xaver Bayer vor Statuen

Klaus Pichler

Heute könnte ein seltsamer Tag sein: „Geschichten mit Marianne“

Der Wiener Autor Xaver Bayer eröffnet am Donnerstag, 16. Juli 2020, das Literaturfestival O-Töne im Museumsquartier. Lesen wird er aus seinem aktuellen Werk „Geschichten mit Marianne“.

Von Katharina Seidler

Ein heißer Sommertag in der Innenstadt, es herrscht Ausnahmezustand. Scharfschützen töten aus Fenstern wahllos Passanten, Terroristen haben Geiseln genommen, Detonationen bringen die noblen Geschäfte der Fußgängerzone zum Einsturz. Mittendrin sind Marianne und der Ich-Erzähler. Sie kochen gerade ein mehrgängiges Abendessen im Luxus-Appartement von Mariannes Vater, direkt am Einkaufsboulevard. Man reicht Champagner, hört klassische Musik und verfolgt die schauderhaften Ereignisse vor dem Fenster und den dazugehörigen Nachrichten-Livestream auf dem Tablet nur nebenbei. “Ich habe gar nicht gewusst, dass du so phantastisch kochen kannst“, lobe ich Marianne. „Ich auch nicht“, erwidert sie. Nach dem Essen tritt das Paar ans Fenster, setzt die Gewehre von Mariannes Vater an, und eröffnet das Feuer.

Ergänzung:

Xaver Bayer wird für „Geschichten mit Marianne“ am 8.11. mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet.

am 25.11. erscheint das Hörbuch zu „Geschichten mit Marianne“ - gelesen von Fred Schreiber

Mit dieser ebenso seltsamen wie erschreckenden Episode beginnt „Geschichten mit Marianne“, die siebte Buchveröffentlichung des Wiener Autors Xaver Bayer. Es ist eine der brutalsten, wenn auch nicht einmal die wundersamste unter zwanzig Geschichten, die der namenlose Ich-Erzähler des Buches mit seiner Geliebten Marianne erlebt. Die Ausgangssituation ist darin immer ähnlich: Die Protagonisten machen etwas Alltägliches, sie kochen Marmelade, blättern in Werbeprospekten oder gehen auf den Flohmarkt. Nach und nach aber verschiebt sich die Welt. Man kann ihrem trügerischen Schein nicht vertrauen, und wirklich bricht früher oder später, manchmal nach wenigen Zeilen, sonst erst nach ein paar Seiten, das Ungeheuerliche unter der Oberfläche hervor.

Der Weg zum Kellerabteil, um für Marianne Marmeladergläser zu holen, entpuppt sich als immer enger werdender Abstieg in eine schlammige Unterwelt, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Das Freilassen einer Maus wird zur mörderischen Menschenjagd im Wald und ein Ausflug in den „Zirkus des Grauens“ endet mit Mariannes Verschwinden, nachdem sie von Clowns hinter den Vorhang gebracht wurde. Der Erzähler nimmt diese Brüche zwar mit Verwunderung, aber größtenteils mit ungerührter Nüchternheit hin: „Sie wird wohl beim Auto auf mich warten, vermute ich. Aber auch dort keine Spur von ihr. Das Auto ist das letzte am Parkplatz. Eigenartig, denke ich, lege den Kopf in den Nacken und schaue hinauf zu den Sternen, gerade im rechten Augenblick, um eine Sternschnuppe zu sehen, die quer über den Himmel zieht und hinter der Zirkuskuppel, die sich dunkel gegen das von den Lichtern der Kleinstadt überstrahlte Firmament abzeichnet, verglüht. Dann ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke hoch, steige ins Auto, und fahre los.“

O-Töne

O-Töne

Nicht immer ist es die Umwelt selbst, die ihre Form und ihren Sinn verändert und für das Liebespaar zum rätselhaften Parcours wird. Bisweilen ist auch die Protagonistin selbst die Auftraggeberin für geheimnisvolle Missionen, deren Sinn nur kaum je offenbart wird. „Heute scheint Marianne besonderes mit mir vorzuhaben. Das merke ich gleich, als sie mich einigermaßen unsanft, durch mehrere Ohrfeigen, weckt.“ Ihrer Verwandlung zur Domina verdankt der Ich-Erzähler immerhin eine tiefgreifende Erkenntnis („dass diese Welt nichts als ein subversiver Schimmelpilz in einem durch und durch digitalen Universum ist“), aber andere von Mariannes Aufgaben, etwa ihre übers Telefon angeleitete Schnitzeljagd durch ein magisches Schloss, führen den Suchenden verwirrt und ohne Handyakku an ein „unermessliches, graues Meer“.

Buchcover "Geschichten mit Marianne"

Jung&Jung

Aufmerksamen Flaneur*innen ist dieses Cover vielleicht schon als Sticker in den Straßen der Wiener Innenstadtbezirke aufgefallen. „Geschichten mit Marianne“ von Xaver Bayer ist bei Jung & Jung erschienen.

Das O-Töne Literaturfestival

  • 16. Juli bis 3. September 2020
  • Open Air, jeden Donnerstag ab 20 Uhr in den Höfen des MQ Wien (unter Einhaltung aller gebotener Sicherheitsregeln)

Vor Xaver Bayer präsentiert zur Eröffnung am 16.7. die Salzburger Autorin Helena Adler ihren vielgelobten Debütroman „Die Infantin trägt den Scheitel links“.

Der Welt ist nicht zu trauen, den Mitmenschen auch nicht, und am allerwenigsten sich selbst. Diese Verunsicherung und Entfremdung der Wirklichkeit fanden sich bereits in früheren Werken Xaver Bayers, von seinem noch eher in popliterarischen Fahrwassern angelegtem Romandebüt „Heute könnte ein glücklicher Tag sein“ aus 2001 bis zu seinem letzten, 2014 erschienenen Band „Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich“. Vor allem die darin enthaltenen Prosaminiaturen funktionierten bisweilen ähnlich wie die „Geschichten mit Marianne“, als ebenso unterhalt- wie wundersame literarische Kippbilder, als Brücken zwischen der vermeintlichen Realität und einer surrealen nächsten Dimension.

Bayer erweist sich in den „Geschichten“ einmal mehr als präziser Erzähler, der sogar einen Einkauf im Supermarkt oder eine Liftfahrt ins Nirgendwo mit schlanken Worten fassbar macht. Durch seinen nüchternen, geradezu lakonischen Ton werden die grausamen Wunder und Irritationen, die den beiden Protagonisten widerfahren, abstrahiert, sie werden in ihrer Absurdität sogar lustig. Es sind Geschichten, die auch den eigenen Blick auf die Umgebung schärfen – die darin immer zahlreicher zutage tretenden Bruchstellen bergen plötzlich die Möglichkeit, in Wahrheit eine Tür in das nächste Level dieses Spiels zu sein.

Zu guter Letzt ist „Geschichten mit Marianne“ auch ein Buch über die Liebe, der man am besten mit gleichviel Staunen und Zittern wie mit entschlossener Kompromisslosigkeit entgegengetreten möge. „Vielleicht hat es damit zu tun, dass mir während meiner Aufwärtsfahrt alles, was mit Marianne zu tun hat, immer fremder geworden ist. (…) und selbst, was ihren Namen anbelangt, bin ich mir nicht mehr sicher: Marianne? Oder doch Marlen oder Madeleine oder Magdalena? Ich bin sogar im Zweifel, ob ich Marianne überhaupt je begegnet bin oder ob sie nicht einfach nur eine Ausgeburt meiner Phantasie ist.“

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