Absurde Landeverbote: Helsinki muss warten - Another time, Vienna!
Eine Kolumne von Robert Rotifer
Sommer, das heißt für mich seit acht Jahren: Nach Wien fahren.
Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.
Denn in Wien ist Ende Juli Popfest (die ersten beiden waren im Mai), und in der Woche danach spiele ich immer ein Konzert am Theater am Spittelberg, nicht selten mit diversen musikalischen Freund*innen. Zwischendurch lassen sich Bekannte und Verwandte treffen, es ist zwar meist unaushaltbar sauheiß, aber das macht die Stadt durch ihr schieres, immer wieder wunderschönes Wiensein locker wieder wett.
Die vierköpfige Familie setzt sich also ins Auto, und wir fahren die Nacht durch Frankreich, Belgien und Deutschland und kommen irgendwann in der Früh geschlaucht aber glücklich in Wien an.
Es war im März schon klar, dass es das 2020 so nicht spielen würde. Während meine britische Wahlheimat ins desorganisierte Desaster stolperte, verfolgte ich aus der Ferne mit, wie viel schneller und besser Österreich auf das Coronavirus reagierte.
Dass das Popfest trotzdem nicht stattfinden konnte, war mehr als einsichtig (lest hier mehr über dessen allerdings nicht unspektakuläre Ausnahmezustandsversion für dieses Jahr).
Der längst ausgemachte Termin des 29. Juli am Spittelberg blieb aber erstaunlicherweise im Kalender, und ich war wild entschlossen, eigens dafür anzureisen, wenngleich diesmal nur zu zweit mit meinem 21-jährigen Sohn (Frau und Tochter entschieden sich schon letztes Monat dazu, diesmal aus verständlichen Gründen zuhause zu bleiben).
In den britischen Medien war einstweilen die längste Zeit von einer kommenden „air bridge“ aufs Festland die Rede gewesen. Nachtzüge aus Brüssel schien es keine zu geben, und eine Autofahrt mit britischem Kennzeichen barg das Risiko möglicher Einfahrbeschränkungen auf der Durchfahrt in sich, also buchte ich einen Flug für zwei nach Wien.
Das ging erstaunlicherweise ganz wie normal.
Wir wussten wohl, dass wir uns am Flughafen Schwechat testen lassen mussten, zu einem Preis von 190 Euro pro Person (später erfuhr ich, dass man sich bis längstens vier Tage vor dem Abflug auch in England um 125 Pfund pro Nase privat testen lassen kann), aber das Konzert war mir dieses Opfer wert.
Mir ging es um ein Statement.
Die Idee, sich von solchen Hürden nicht abhalten zu lassen.
Ein Zeichen der Solidarität zu setzen, nicht zuletzt an Nuschin, die Chefin des Theater am Spittelberg, und ihr Team, die Pioner*innenarbeit leisteten, um Konzerte zu ermöglichen.
Und an all die Leute bei euch, die der Musik zuliebe bereit sind, diese Konzerte zu besuchen (was in Großbritannien übrigens immer noch nicht geht).
Ich wollte sie alle sehen und mit ihnen zusammen einen guten Abend verbringen.
Doch dann kam – nicht ganz unerwartet – eine Absage von British Airways wegen des anhaltenden Landeverbots für Flüge aus Großbritannien - verbunden mit dem Angebot, stattdessen siebeneinhalb Stunden mit Zwischenlandung in Helsinki zu fliegen.
Nun belastet das Fliegen, in einer Zeit, wo der Permafrost aufgeht und in Sibirien die Hitzerekorde purzeln, ohnehin schon schwer das Gewissen. Der Gedanke, dass ich der Legalität meiner Reise zuliebe in den Norden reisen sollte, um mir auf einem finnischen Flughafen die Beine zu vertreten, und dann mit dem Anschlussflug gleich einen weiteren CO2-Fußabdruck auf dem geschundenen Planeten zu hinterlassen, war mir unerträglich.
Was für einen Sinn sollte es haben, mit den anderen Passagier*innen potenziell das Virus nach Helsinki zu schleppen oder es gar dort aufzugabeln und nach Wien mitzunehmen? An dieser absurden Farce wollte ich nicht teilnehmen, buchte also auf den nächsten erhältlichen Direktflug am 24. Juli um.
Gestern erfuhr ich dann, dass das österreichische Landeverbot für Direktflüge aus Großbritannien (und 17 anderen Ländern) bis Ende des Monats ausgeweitet wurde, und mir war gleich klar, was das bedeutet.
Diese dumpfe Gewissheit kreiste wie eine matte Murmel durch meinen Kopf, als wir auf einen unserer langen Spaziergänge durch die Wälder und Felder in unserer Gegend gingen, die wir in den vergangenen Monaten so eindringlich kennen und lieben gelernt hatten.
Robert Rotifer
Auf dem Rückweg dann kam die befürchtete SMS von der Fluglinie. Aber diesmal bot mir deren Website auch keine geographisch perversen Alternativen mehr an, sondern schickte mich bloß in ein kafkaeskes Karussell zwischen „Manage my Booking“, „Contact us“, „Go to Manage my Booking“, „Contact us“ und schließlich einer Hotline, die einen anweist, es doch auf der Website mit „Manage my Booking“ zu probieren. Wir werden noch darauf zurückkommen, British Airways, wenn ich die Zeit habe, mir euer Gedudel anzuhören, bis endlich euer/eure Operator abhebt.
In der Zwischenzeit hatten mir mehrere Leute Alternativen vorgeschlagen, vom Fahrradfahren (Danke, Dieter!) über die bestehenden Zugverbindungen (horrend teuer) und Kanaltunnel plus Autofahrt bis zum Flug nach Zürich oder München, gefolgt von einer Zugfahrt nach Wien.
Aber je mehr ich mich in diverse Websites vertiefte, desto lauter wurden die inneren Zweifel daran, was ich da eigentlich tat.
Robert Rotifer
Ihr kennt wahrscheinlich jene in sozialen Medien kursierenden Memes, die die Porträts besonnener Regierungschefinnen von Ländern, die besonders gut mit der Pandemie zurande gekommen sind, mit jenen der Regierungschefs von Ländern wie Großbritannien, Brasilien oder den USA kontrastieren, wo das Thema stattdessen zum Schauplatz eines Kulturkrieges mit großen Menschenopfern erkoren wurde.
Und auch der innerbritische Vergleich zwischen Schottland, wo es kaum mehr Infektionen gibt, weil der Lockdown von der Ersten Ministerin Nicola Sturgeon mit wesentlich mehr Ernst und Konsequenz durchgeführt wurde, und dem von der Regierung Johnson verantworteten Chaos in England legt denselben Schluss nahe: Selbst wenn man so wie ich nicht viel von Geschlechterstereotypen hält, scheint es keine schlechte Idee zu sein, im Umgang mit dieser Pandemie auf das Urteil von Frauen zu hören.
Beim Frühstück fragte ich also J. (meine Frau) ganz offen, welche meiner Optionen sie eigentlich für richtig hielte. „Schau“, sagte sie, „Mir ist schon klar, dass du dir nicht vom Anschober vorschreiben lassen willst, ob du in Wien spielen kannst.“ Aber, meinte sie sinngemäß, mein Beharren auf die Fahrt sei auch kein Heldentum. Ein Virus sei kein Feind, dem man eins auswischen könne. Die Vorstellung, dass Wien ausgerechnet mein Einfliegen aus dem verseuchtesten Land Europas braucht, um sich zu beweisen, dass es wieder Konzerte abhalten kann, vielleicht ein Spürchen vermessen. Und möglicherweise, ja sogar ziemlich sicher aus gesundheitlicher Sicht für alle Beteiligten nicht ganz vernünftig.
Ich spürte jenes Ziehen im Nacken, das das Aufsteigen einer Einsicht anmeldet. Es sagte mir, dass J. ganz offensichtlich recht hatte. Unter dem Deckmantel meiner scheinbar altruistischen Aufopferung für Spittelbergtheater und Publikum hatte ich mir – ohne es zu merken – einen inneren Mini-Bolsonaro angezüchtet, der seine eigene Mission töricht/männlich über alles andere stellt.
Also: Es muss nicht sein. Wien wird es diesen Sommer auch ohne mich aushalten.
Aber diese Kolumne will keine moralische Überlegenheit demonstrieren, im Gegenteil:
Ich kenne genug Leute, die in den letzten Wochen zwischen Österreich und Großbritannien gereist sind. Eine während der Pandemie monatelang in Österreich steckengebliebene Freundin kam schließlich über Umweg aus Frankfurt nach London zurück. Und eine befreundete auslandsösterreichische Familie, die am 27. Juli aus London nach Wien zurückziehen wollte, sucht gerade fieberhaft nach Alternativen für ihren abgesagten Flug.
Sie alle hatten und haben dringende Gründe zu reisen, und sie stell(t)en kein Risiko dar. Im Gegensatz zu mir planen sie nicht, Österreicher*innen mit ihrem Tröpfchenregen anzusingen und nach ein paar Tagen wieder zurückzufliegen.
Wenn man den Leuten sagt, sie sollen nur im nötigen Fall reisen, dann muss man ihnen das andererseits auch erst einmal erlauben.
Ich habe wohl gelesen, dass bei euch die Infektionszahlen wieder steigen. Allerdings: Die große Geste, sich mit einem Landeverbot vor Virenträger*innen aus den garstigeren Winkeln des Auslands zu schützen (was ist übrigens mit den USA?), wird daran wenig ändern.
Zumal jene sich ohnehin entweder testen lassen oder nach Ankunft zwei Wochen in Quarantäne begeben müssen.
Und zumal das System Landeverbot in seiner Durchführung geradezu danach verlangt, hintergangen zu werden.
So, und ich geh jetzt wieder spazieren. Helsinki wäre ja übrigens gar nicht uninteressant, jenseits des Flughafens, das schau ich mir irgendwann auch noch an.
Robert Rotifer
Publiziert am 15.07.2020