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Szene aus "Love"

Thim Film

Im Programmkino wird der „Summer of Sex“ ausgerufen

Bis Anfang September zeigt das Wiener Schikanederkino riskante, wilde und manchmal tabubefreite Filme von Gaspar Noé, Andrea Arnold, Paul Thomas Anderson oder Ulrich Seidl.

Von Christian Fuchs

Während sich die großen Filmverleiher gerade schwertun, weil es keinen spektakulären Nachschub für die wiedereröffneten Kinos gibt, reagieren Arthouse-Anbieter kreativ auf die Krise. Viele Programmkinos setzen auf liebevolle Zusammenstellungen moderner Klassiker. In Wien fällt diesbezüglich gerade das Schikaneder auf, mit einer Auswahl abseits der üblichen Kunstfilm-Klischees.

„Keine Zensur und keine Prüderie haben in letzter Zeit unsere Körper auf Distanz gebracht, sondern ein neuartiges Virus. Es hat uns isoliert und suspendiert. Höchste Zeit verpasste Nähe wettzumachen.“ So steht es im Programm zur Schikaneder-Sommerkino-Reihe. Die kleine und feine Wiener Arthouse-Abspielstätte ruft allerdings nicht zu Maskenverweigerung, aufgedrängten Umarmungen und Bussi-Bussi-Exzessen auf.

Summer of Sex“ heißt die Retro, die letzte Woche begonnen hat - und bis 10. September läuft. Romantische, schlüpfrige, durchgeknallte, wahnwitzige Filme lösen sich ab. Dabei geht es, dem Thema entsprechend, auch kontrovers zu. Zum Beispiel mit Bernardo Bertollucis Spätwerk „The Dreamers“ (Die Träumer), in der Eva Green und Louis Garrel inzestiöse Spiele wagen, während in Paris 1968 die Straßen brennen.

Szene aus "The Dreamers"

Fox Searchlight

„The Dreamers“ (GB/FR/IT/US, 2003)

Träumen, reden, fummeln

Matthew, ein amerikanischer Austauschstudent, trifft im aufgewühlten Paris auf zwei Gesinnungsgenossen. Isabelle und ihr Zwillingsbruder Theo haben sich ebenso total dem Kino verschrieben, stilisieren ihr bürgerlich behütetes Leben zum neverending Filmzitat. Als draußen in der Realität die Demonstrationen losbrechen, kommt es in der Wohnung der Geschwister zu verbotenen Annäherungen, zu Sauf- und Fummelgelagen, letztlich einer Menage à trois wie aus dem Sixties-Bilderbuch. Und vor allem zu unzähligen Gesprächen über Gott, die Welt, Philosophie und Kino, Kino, Kino, mal bekleidet, mal gemeinsam in der Badewanne.

Die offenherzigen Nacktszenen mögen 2003 manche Kritiker*innen verwirrt haben. Aber die Botschaft des Films zielt weniger auf Körperbefreiung ab. Cineastisches Wissen ist sexy, das ist die Idee hinter „The Dreamers“. Jugendliches Fachsimpeln ist saugeil, sagt uns Opa Bertolucci. Und wer sich nicht vor Mitte Zwanzig in hitzige und erhitzende cinephile Wortgefechte verstrickt, wie die Charaktere dieses Films, verpasst später etwas.

Szene aus "The Vampyres"

Blue Underground

„Vampyres“ (GB/ES, 1974)

Addicted To Love

Ernsthaft umstritten dagegen ist noch immer/schon wieder Bernardo Bertoluccis Klassiker „Last Tango in Paris“, ein einstiger Skandalfilm, über dessen Dreharbeiten grimmige Gerüchte kursieren, ein berühmtes Filmdrama, das in Zeiten der Cancel-Culture doppelt anstößig wirkt. Ingmar Bergmans schwarzweiße Beziehungsstudie „Tystnaden“ (Das Schweigen), der heute wie ein stilistisch beeindruckendes Museumsstück wirkt, erregte 1964 ebenso die Gemüter. In Deutschland löste der Film gar die Gründung der „Aktion saubere Leinwand“ aus.

Die „Summer of Sex“ Reihe mischt das strenge Schaffen der schwedischen Regie-Ikone jedenfalls locker mit britischer Sexploitation („Vampyres“ von José Ramón Larraz, ein schundig-schöner Geheimtipp) oder französischen Liebesabgründen. Der tolle „Love“ von Gaspar Noé ist nämlich auch zu sehen. Der Pionier des transgressiven Körperkinos verfolgt selbst in seinem bislang zärtlichsten Film einen radikalen Ansatz.

„Love“ zeigt die wortwörtlichen Höhepunkte im Alltag eines frisch verliebten Pärchens, die im herkömmlichen Mainstream-Film immer noch verboten sind: Ekstasen, Orgasmen, Ejakulationen, letztere auch mal gerne direkt in die Kamera und in 3D. Von einem Porno ist der Film trotzdem weit enfernt. „Ich wollte einen traurigen erotischen Film machen“, erklärt Noé anno 2015, „aber auch vom Suchtcharakter der Liebe erzählen.“ „Love“ erzählt tatsächlich von existentiellen Wahrheiten, die der Film aber unter der Gürtellinie sucht.

Szene aus "Love"

Thim Film

„Love“ (FR/BE, 2015)

Schmutz und Kunst

Avantgarde-Erotik, blutiger Horrorsex, queere Undergroundmovies und Cineasten-Meilensteine folgen bei „Summer of Sex“ locker hintereinander. Die Grenzen vom Küssen und Kuscheln zum Tabubruch verlaufen fließend. Ulrich Seidls derb-verstörendes Wienportrait „Hundstage“ oder Paul Thomas Andersons großartige Porno-History „Boogie Nights“, mit dem jungen Mark Wahlberg in seiner immer noch besten Rolle, mögen schon viele gesehen haben. Den schwarzromantischen Sleazegrusel-Meilenstein „Les lèvres rouges“ (Blut auf den Lippen, 1971) wahrscheinlich nicht.

Was früher Schmutz und Schund war, wird heute oftmals von Cinephilen als Ultrakunst verehrt. Das gilt beispielsweise auch für Paul Verhoevens Las-Vegas-Stripspektakel „Showgirls“. 1995 belächelt und zerrissen ist spätestens seit der Lobpreisung durch Regisseure wie Quentin Tarantino oder Jim Jarmusch der Kultstatus des Films gesichert. Gemeinsames Verschmelzen im kollektiven Kinoerlebnis wünscht sich das Schikanederkino im Sommer bei diesen Werken - natürlich auf Sicherheitsabstand.

Die Retrospektive Summer of Sex läuft von 17.7. bis 10.9.2020 im Wiener Schikanederkino.

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