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Insel  Pāpiliōnem

Tomorrowland - Around the world

So seltsam war die digitale Ausgabe des Tomorrowland Festivals 2020

Das digitale Festival „Tomorrowland - Around the World“ versprach dieses Wochenende einen riesen Rave auf der fiktiven Insel Pāpiliōnem, mit acht Stages und über 60 Acts. Und das alles in einer eigens designten virtuellen Welt.

von Alica Ouschan

Ich glaube ja, alle Fans von Festivals und elektronischer Musik haben irgendwann mal davon geträumt, eines Tages aufs Tomorrowland zu fahren. Die Bilder, Videos und Sets sind schließlich legendär, von der unglaublichen Atmosphäre schwärmen alle, die dieses Kult-Festival schon einmal live erlebt haben. Ich habe es bis jetzt noch nicht aufs Tomorrowland nach Belgien geschafft und nachdem alle großen Festivals im Sommer abgesagt wurden, ist auch 2020 bestimmt nicht mein Tomorrowland-Jahr...

„Falsch gedacht!“, sagte mir das Tomorrowland - die Veranstalter*innen haben nämlich einfach von analog auf digital umgesattelt und eine Online-Version geschaffen - damit die Tomorrowland Hardcorefans zumindest einen Bruchteil der echten Experience erleben können. Nun, als Hardcorefan würde ich mich bei aller Festivalliebe nicht bezeichnen, aber die Chance am digitalen „Tomorrowland - Around the world“ teilzunehmen, wenn ich’s denn schon nicht aufs echte Tomorrowland geschafft habe, wollte ich mir trotzdem nicht nehmen lassen.

Ein Line-Up der Extraklasse

An zwei Tagen findet die Party statt: Das Festvialgelände, eine fiktive Insel mit dem klangvollen Namen „Pāpiliōnem“, öffnet jeweils 16 Uhr. Die Konzerte starten zwei Stunden danach und dauern bis ein Uhr nachts. Von Drum’n’Bass über Techno und Frenchcore bis hin zu Progressive House ist mit den 60 Acts eine breite Spanne an elektronischen Genres abgedeckt. Auf dem Line-Up stehen große EDM-Namen wie David Guetta, Martin Garrix, Amelie Lens, Steve Aoki, Paul Kalkbrenner und Armin Van Buuren. Klingt fast zu schön um wahr zu sein? Ein Traum-Line-Up für echte Tomorrowland Fans eben - nur leider nicht live live, sondern nur im Livestream. Naja, immerhin etwas, oder?

Insel  Pāpiliōnem

Tomorrowland - Around the world

Samstag, 16 Uhr und das „Gelände“ eröffnet. Gespannt und vollkommen im Dunkeln darüber, was mich erwartet folge ich den Anweisungen. Gut, Account angelegt, Code eingetippt und der Button „Enter Festival“ erscheint. Davor wird noch eine kurze Nachricht angezeigt, dann ein Warnhinweis, dass die Konzerte nicht fotografiert oder aufgezeichnet werden dürfen, ein paar Sekunden eines Intro-Videos und ich bin drin. Schwebe über Pāpiliōnem.

8 Stages, 60 Acts und ein Haufen „Experiences“

Die Grafik ist - soweit ich das als absoluter Game-Noob beurteilen kann - ganz nett und ziemlich farbenfroh. Die Navigation übers Festivalgelände ist sehr benutzerfreundlich, ich finde mich schnell zurecht und schaue mir an was es alles so gibt. Da sind die acht Stages, über die ganze Insel verteilt und noch ein paar andere kleine Felder, die ich anklicken kann: Cocktail-Rezepte und einen virtuellen Kochkurs gibt’s, natürlich einen Tomorrowland-Merchstand, eine Bibliothek mit einer Timeline von vergangenen Ausgaben des legendären Festivals und einem Tomorrowland-Quiz.

Am interessantesten finde ich den Menü-Punkt „Inspiration Sessions“. Dahinter verbergen sich nämlich ein ganzer Haufen an Motivationsvideos von sogenannten „International Rolemodels“ wie will.I.am von den Black Eyed Peas, der Surferin Bethany Hamilton oder dem Gründer von Cirque de Soleil, Guy Laliberte. Spannend und unerwartet das Ganze. Aber ich schau mich mal weiter um, kann ja später nochmal hierher zurück kommen.

Ui, es ist auch gleich 18 Uhr und die Sets der DJs beginnen. Zugegebenermaßen kann ich meine Enttäuschung darüber nicht ganz runterschlucken, dass ich keinen Avatar designen durfte, der jetzt mit Hunderten anderen Avataren, hinter denen echte Menschen aus der ganzen Welt stecken, über dieses fiktive Festivalgelände streifen und von Bühne zu Bühne schlendern kann, während ich mir ein fiktives Bier genehmige und abwechselnd auf die linke und rechte Pfeiltaste drücke um abzushaken. Wäre vielleicht zu aufwändig gewesen... Immerhin gibt es eine Chatfunktion, wo ich mit den Hunderten Besucher*innen in Kontakt treten kann - auf mehr als eine „Love from xxxland“-Nachricht nach der anderen läufts da drinnen aber auch nicht hinaus.

Beeindruckend und absurd zugleich

Umso gespannter darauf, was die Konzerte zu bieten haben, klicke ich um kurz nach sechs auf die Mainstage, die der holländische DJ Oliver Heldens eröffnet. Die Animation der Konzerte ist tatsächlich überraschend beeindruckend umgesetzt - Oliver Heldens steht (vermutlich vor einem Green Screen?) auf einer riesigen animierten Stage hinter einem echten DJ-Pult und jubelt einer Menge von - ahhhh endlich, da sind sie!! - animierten Menschen zu. Die Stage ist zwar eindeutig ebenfalls eine Animation, ist aber tatsächlich ein realistisches Ebenbild der Mainstage des echten Tomorrowlands.

Auf den anderen Stages schaut es nicht anders aus: Die Core-Stage besteht aus einem riesigen Feen-Kopf direkt vor einem digitalen Wald, die Moosebar ist eine animierte Schihütte inklusive echten, in Dirndl gekleideten Tänzerinnen, die Freedom-Stage besteht aus einer einzigen crazy Lightshow, die dem Bildschirm einen eigenartigen 3D Effekt verleiht, die Cave-Stage ist tatsächlich in einer digitalen Höhle und die Atmosphere-Stage in einem riesigen Zirkuszelt.

Nachdem ich per Mausklick zwischen den Stages hin und her manövriert und mir ein paar Acts reingegönnt habe, bin ich mir sicher, dass dieser Rave durchaus großen Spaß machen könnte - alleine vor dem Laptop, kopfnickend zu Charlotte De Vitte und Robin Schulz, komme ich mir aber ziemlich seltsam vor. Ich klicke mich weiter durch, das Set einer meiner Lieblings-DJs Paul Kalkbrenner reißt mich etwas aus dem Sessel - alleine tanzen macht aber einfach nicht so viel Spaß und schnell müde. Nachdem ich kurz noch bei Steve Aoki und Armin Van Buuren vorbei geschaut habe, bin ich mir sicher, dass es mit Ausnahme der unterschiedlichen Musikstile und liebevoll aufbereiteten Stage-Atmosphären fast immer dasselbe ist.

Überall gibt es verrückte bunte Lichtshows und Nebel, die Tanzmusik ist unterlegt mit einzelnen Pfiffen und Zurufen aus dem „Publikum“. Die digitale Crowd tanzt, der real-life DJ animiert sie und interagiert mit ihnen - und sie reagieren drauf. Irgendwie ist das ganze einerseits zwar wirklich cool und bemüht umgesetzt, gleichzeitig wirkt es aber auch enorm absurd und irgendwie befremdlich... Auf einem großen Bildschirm mit fetten Boxen, könnte es sich aber tatsächlich wie ein echter Festival-Livestream anfühlen.

Insel bei Nacht

Tomorrowland - Around the world

Großer Bildschirm + fette Boxen = ultimative Experience?

Ich beschließe meine Überlegung gleich mal zu testen und verabrede mich für Sonntag Abend mit einer kleinen Runde meiner Techno-begeisterten Freund*innen und beschließe, diesmal den Fernsehbildschirm im Wohnzimmer zu verwenden und die großen Boxen anzustecken.

Und tatsächlich: Werden der Sound laut aufgedreht, das Wohnzimmerlicht ausgeschaltet und dann noch ein, zwei Bier getrunken kommt sogar Stimmung auf. Die Wechsel der Sets gehen schnell über die Bühne, wird der Wunsch nach einem Stimmungswechsel laut, kann man in weniger als 10 Sekunden die Stage wechseln, ohne sich durch schwitzende Menschenmengen und drei Wavebreaker durchkämpfen zu müssen. Und auf dem großen Bildschirm wirkt alles irgendwie echter und nicht halb so weird - also wenn man sich auf die Musik und die Lichtshow konzentriert.

Okay, zugegeben, wenn Tiesto bei seinem Set dann aufs DJ-Pult springt und der animierten Menschenmenge zuruft, dass sie die Besten sind, ist das immer noch sehr strange. Bei den dunkleren Locations, deren Visuals sich hauptsächlich aus blitzenden Lichtshows und weniger aus unechten Crowds speisen, fühlen wir uns viel wohler. Nachdem wir eine ganze Weile im Zelt der Atmosphere-Stage hängen geblieben sind und die großartige Amelie Lens ihr Set eröffnet, ist es Zeit die Stage zu wechseln. Wir wollen schließlich IHN nicht verpassen.

Wir kommen gerade rechtzeitig, als eine Stimme verkündet: „This is a special moment, a moment of reflection. Together we create a symbol of strengh. All nations will become connected, guided by the sounds of Daaaaavid Guettaaaaaa!“ - der Mann der Stunde erscheint und beginnt sein Set mit „Titanium“. Das animierte Publikum? Singt natürlich lautstark mit, soll ja alles realistisch wirken. David ist hyped, er gibt alles und spielt, wie er sagt „99% exclusive music tonight“ - ist auch sein erstes digitales Festival, wie er uns mitteilt, da muss man den Fans auch was bieten. Wir brüllen „I am Titaniuuuuum“ in meinem Wohnzimmer, die Stage leuchtet in helltürkisem Licht, Nebel und Feuerwerke - „We’re here to celebrate - bring your girlfriend, bring your parents and party at home!“, sagt David. Wir lassen uns das nicht zweimal sagen und geben alles.

Der Wille zählt...

Unsere Stimmung hält sich - wie so oft bei gestreamten Clubbings - nicht sehr lange, wir verfallen schnell wieder ins Sitzen und Plaudern, freuen uns nebenbei über die tolle Lightshow, wie leidenschaftlich David Guetta bei der Sache ist und über den melodiösen, beeindruckend lauten Gesang der Crowd. Wir schauen noch einmal kurz bei Amelie Lens vorbei und zu meinem DJ-Crush aus Teenie-Zeiten - Netsky - in die bunt ausgeleuchtete, neblige Cave,der Liquid Drum’n’Bass-Remixes von Weeknd und Rihanna-Songs spielt, die dann in einen crazy Dubstep-Mix umschlagen.

Am Ende des Abends bin ich fast so erledigt wie nach einer durchgefeierten Festivalnacht, aber leider nicht einmal halb so zufrieden. Das digitale „Tomorrowland - Around the World“ hat definitiv seinen Zweck erfüllt und - was sich aus manchen Nachrichten im Chat entnehmen ließ - vermutlich einigen seiner Hardcorefans tatsächlich den Sommer gerettet.

Ein digitales Festival ist alles in allem eine tolle Idee, die im Falle des Tomorrowlands wirklich nett und bemüht umgesetzt wurde, unterm Strich bleibt aber selbst beim digitalen Tomorrowland lediglich ein kleiner Bruchteil der echten Experience übrig. Mit Ausnahme der Acts ist das Online-Tomorrowland leider auch nicht viel mehr, als eine Reihe an aufgemotzten, gut vermarkteten Boiler Room-Streaming-Sessions inklusive spannenden Green Screen-Animationen.

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