FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Voodoo Jürgens Karlskirche

David Visnjic

Voodoo Jürgens lässt am ersten Popfest-Tag seine Antihelden in der Kirche auferstehen

Fast hätte es kein Popfest 2020 gegeben. Doch nun hat mit einem Konzert von Lieblings-Strizzi Voodoo Jürgens in der Wiener Karlskirche die zweitägige Festivalalternative »Popfest im Ausnahmezustand« eröffnet.

von Michaela Pichler

Glück muss man haben. Zumindest, wenn man bei der Tombola des diesjährigen Popfests sein eigenes Glück versucht hat und alles auf die heißbegehrten Karten gesetzt hat. Auch eine Form von „klanem Glücksspiel“, wie es der legendäre Liedermacher Voodoo Jürgens wohl an dieser Stelle bezeichnen würde. Und kein geringerer als er ist Headliner am ersten Abend des „Popfests im Ausnahmezustand“. Aber alles der Reihe nach.

Popfest im Ausnahmezustand Karlskirche Tag 1 Voodoo Jürgens und Hirsch Fisch

David Višnjić

Ein Hirsch, ein Fisch und mehrere Buntspechte

Als die Tore der Karlskirche sich am Samstag Abend öffnen, treten rund 150 ausgehungerte Konzertbesucher*innen maskiert und mit Sicherheitsabstand über die Kirchenschwelle. Die markierten Sitzplätze auf den katholischen Kirchenbänken warten schon, genauso wie die erste Band des Abends: Hirsch Fisch heißt das Herren-Duo, bestehend aus Norbert Trummer und Klaus Tschabitzer. Gemeinsam standen die Steirer bereits in den 90ern als Scheffenbichler auf Österreichs Bühnen, 2016 ist das Dialekt-Projekt Hirsch Fisch mit Country-Einflüssen geboren worden. Sie selbst beschreiben sich als eher melancholische Naturelle und ihre Musik klingt dementsprechend wehmütig. Als sie sich allerdings Special-Gäste auf die Bühne holen, wird es deutlich wilder: Mit den Musikern von Buntspecht sinkt der Altersdurchschnitt on stage, es wird lauter, dem Publikum gefällt’s. Hirsch Fisch singen im bassigen Dialekt über den Staub und das eiskalte Wasser, sie zupfen am Banjo, an der Ukulele und an der Steel-Gitarre. Mit der nachhallenden Zeile „Und die Zeit steht still“ verabschieden sich Hirsch Fisch.

Im FM4 Mediaplayer gibt es die ganze Popfest Livesendung von Tag 1 noch 7 Tage zum Nachhören!

In der kurzen Umbaupause wird es Zeit für den Auftritt jener Personen, die für das heurige Popfest-Programm verantwortlich waren: Das Kurator*innenteam Esra Özmen (EsRap) und Herwig „Fuzzman“ Zamernik (Naked Lunch) hat sich vor einem halben Jahr auch noch eine ganz andere Festivalsituation ausgemalt. Im elften Jahr des Festivals rund um den Karlsplatz kommt aber alles anders als geplant. Umso herzlicher begrüßen die beiden die kleine Menge, die schon sehnsüchtig auf den Act des Tages wartet.

„Ich küsse eure Herzen mit einem Meter Abstand“ - Esra Özmen

Um 22 Uhr ist es schließlich soweit: Mit Popfest-Maske tanzt der Strizzi der Stunde auf die Bühne, seine treue Ansa Panier wartet schon – mit Martin Dvoran am Bass, David Schweighart an den Drums, Bernd Lichtscheidl an den Tasteninstrumenten, Matthias Frey alias Sweet Sweet Moon an der Geige und Alexander Kranabetter an der Trompete. Nur Alicia Edelweiss fehlt mit ihrem zauberhaften Akkordeon, was die Männerquote in den Musikreihen an diesem Abend auf satte 100 Prozent bringt.

Popfest im Ausnahmezustand Karlskirche Tag 1 Voodoo Jürgens und Hirsch Fisch

David Višnjić

Ein heiliger Schein und viele Hallodris

Voodoo Jürgens spielt heute übrigens nicht zum ersten Mal in einer Kirche. Seine Dialekt-Geschichten hat er bereits in einer Gefängniskapelle zum Besten gegeben, ein schwieriges, aber besonderes Konzert, wie der Liedermacher im Interview erzählt: „Dadurch, dass ich da wirklich vor Insassen gespielt habe, war das wirklich sehr flashig, weil die Texte da einfach ganz anders eingefahren sind. Die traurigen Stellen, die haben auf einmal so eine Wucht gehabt.“ Die Atmosphäre in der Karlskirche ist an diesem Juli-Abend doch eine andere. Die Scheinwerfer leuchten rot, hinter Voodoo Jürgens Goldschopf glänzt das mahnende Kruzifix, ein riesiger goldener Heiligenschein schwebt über dem Altar. Die Popfest-Messe darf beginnen.

Popfest im Ausnahmezustand Karlskirche Tag 1 Voodoo Jürgens und Hirsch Fisch

David Višnjić

Trotz Corona-Pause ist die Band gut eingespielt, in ihrer schwankend-wankelmutigen Manier, mit den schrägen Melodica-Melodien, stampfenden Rhythmen, Sweet Sweet Moons Violinen-Gestreiche und einem Harmonium, das mitten auf der Kirchenbühne thront. Wer Voodoo Jürgens und seine Ansa Panier kennt, den wundert das nicht. Geübt wurde seit vier Jahren, tagaus und tagein, in verrauchten Tschocherln, dunklen Kellerlokalen, dämmrig Beiseln, aber auch in ausverkauften Locations wie der Arena Wien. Auch heute Abend funktioniert die Mischung aus fiktiven Geschichten, autobiographischen Elementen, einem Entertainer, der es so gut schafft, den Fokus nicht auf sich selbst zu legen, sondern auf die vielen Antihelden, denen ein ums andere Mal ein Happy End versagt wird. Voodoo Jürgens stellt mit jedem Song seine besondere Beobachtungsgabe für die österreichische morbide Seele unter Beweis. Egal ob es um eine Boxerlegende geht („Hansi da Boxer“), um die schon im Vornherein zum Scheitern verurteilte Beziehung zu einem Hallodri („Gitti“) oder um die Klassenunterschiede, die sich schon an der Schuljause ablesen lassen („2L Eistee“).

„I bin a grod geflashed von der Situation!“

Zwischen den Liedern übers Scheitern gibt es immer wieder ein kleine Plauderei mit dem Publikum: „Man is’ es nimmer so g’wohnt, dass Konzerte sind! Das letzte Mal im Februar, oder? Ham es fast verlernt, aber wir können’s eh a bissl auffrischen. Was spiel ma denn überhaupt?“, raunt Voodoo zu seinen Bandkollegen, die daraufhin einen Song vom zweiten Album „S’klane Glücksspiel“ anspielen – „Scheidungsleichn“. Als Voodoo Jürgens schließlich „Heite grob ma Tote aus“ mit den Worten „Und jetzt was zum Tonzen!“ ankündigt, wird schüchtern im Publikum gekichert. Dennoch packen einige in den ersten Kirchenreihen ihre besten Sitz-Choreos aus, am Ende animiert der Liedermacher seine Hörer*innenschaft zum Mitsingen. Das Publikum ist losgelöst wie sonst nie an diesem Abend, die meiste Zeit ist es zurückhaltend und dankbar. Es wird stiller genossen als bei einem gewöhnlichen Stehkonzert.

Popfest im Ausnahmezustand Karlskirche Tag 1 Voodoo Jürgens und Hirsch Fisch

David Višnjić

Am Sonntag treten die Ausnahmekünstlerin Soap&Skin und die Cellistin Marie Spaemann in der Popfest-Karlskirche auf. Auch Tag 2 wird live ab 21 Uhr auf FM4 übertragen, sowie in mehreren ausgewählten Kinos in ganz Österreich!

„Heite geh ma friara z’Haus“

Das Voodoo-Jürgens-Konzert endet mit einer Zugabe, wo für den Geschichtenerzähler alles begonnen hat – in „Tulln“. „Vo durt bin i her, vo durt bin i davogrennt“, sprudelt es aus der Bühnenpersona Voodoo heraus. Der Applaus schallt in der hallenden Kirchenkuppel noch nach, während das Sitzfleich schon von den frommen Sitzbänken schmerzt. Zufrieden treten die Popfest-Besucher*innen wieder aus der Kirche und in die Nacht hinaus. Besonders klingt dann aber doch noch eine Zeile von Voodoo Jürgens größtem Hit nach, als das Konzert aus ist und der Mundschutz wieder drapiert wird: „Heite geh ma friara z’Haus“, früher als sonst üblich an einem Popfest-Wochenende, an dem man im Normalfall noch im Prechtlsaal schwitzt oder in gemütlicher Runde am Teich vor der Karlskirche in Konzerterinnerungen der letzten Jahre schwelgt. Aber was ist in diesen Tagen schon normal? Sicher und schön ist zumindest, dass sich die Karlskirche auch schon für den nächsten Popfest-Abend mit Soap&Skin bereit macht - auch das ist ein Ausnahmezustand, auf den wir uns schon freuen dürfen.

Aktuell: