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Soap&Skin beim Popfest 2020

Radio FM4 / David Višnjić

popfest

Soap&Skin und Marie Spaemann live beim Popfest

Anja Plaschg alias Soap&Skin spielt am zweiten von zwei „Popfest im Ausnahmezustand“-Abenden 2020 in der Wiener Karlskirche ein Konzert des Lebens.

Von Katharina Seidler

Der Kirchgang am Sonntag bildet den traditionellen Abschluss des Popfests, auch lauschte man dort im meterhohen Kirchenschiff nach ein paar heißen Sommernächten meist kontemplativen und progressiven Soundentwürfen. In dieser Hinsicht also stellte der gestrige Abend beim Popfest 2020 gar nicht so sehr jene Ausnahme dar, die er im Titel trägt, und doch war an diesem Wochenende alles anders als sonst.

Es geht nicht nur um die Gesichtsmasken und duftenden Desinfektionsmittelständer, die Abstand markierenden Löschblattzettel auf den Bänken, die fehlende FM4-Ente im Teich, oder überhaupt gleich: den drohenden Zusammenbruch der Welt draußen und der Weltordnung, wie wir sie kennen. Es betrifft auch, um den Fokus wieder etwas zu verkleinern, das Programm des Popfests im Speziellen, denn in seinem elften Jahr darf das Festival endlich Soap&Skin auf dem Line-up begrüßen. Im allerersten Popfest-Jahr hat Anja Plaschg gemeinsam mit Nino aus Wien auf der Seebühne Bob Dylan gecovert, danach haben die Umstände für einen Soloauftritt einfach nicht gepasst, bis gestern.

Zuvor aber noch bekommt ein Instrument seinen jährlichen Hotspot auf der Karlskirchen-Bühne, das sich in den letzten Jahren für die konzentrierte Konzertsituation vor dem Altar besonders bewährt hat. Die Musikerin Marie Spaemann erschafft allein mit ihrem Cello, ihrer Stimme und ein paar Effektgeräten luftige Kunstlieder, traumtänzerische Kompositionen zwischen Klassik, Jazz und Pop, argentinischem Tango und hebräischem Liebeslied. „Das Instrument ist mir ins Auge gestochen. Es hat gesund auf mich gewirkt“, wird Spaemann im Pressetext auf der Festival-Website zitiert, und wirklich sitzt sie mit größter Natürlichkeit und Anmut am Cello und die Melodien scheinen durch sie hindurch zu fließen.

Barfuß tappt sie unbemerkt auf die Loopstation und splittet ihre Stimme in Echos, die als kleine Chöre in die Kirchenkuppel schweben, als hätten ihre Schatten an den Seitensäulen singen gelernt. Schwierig ist es ja immer, die Menschen zum Mitsingen zu bewegen, vor allem, wenn es eine so komplizierte Hookline wie die der Abschlussnummer ist, aber selbst das geht sich bei Marie Spaemann und dem andächtigen Popfestpublikum des Abends irgendwie aus.

Soap&Skin beim Popfest 2020

Radio FM4 / David Višnjić

„Ich hab das Gefühl, ich hab irgendwas falsch gemacht“, wird Anja Plaschg später an dem Abend inmitten eines nichts weniger als perfekten Konzertes sagen, und sie bündelt mit diesem Satz die Essenz ihrer Kunst. Diese nährt sich aus permanenten Selbstzweifeln, aus Hinterfragen und Neujustieren, bedingungslosem Perfektionismus und dem Wissen, dass es immer um alles geht. Auch im Augenblick des Triumphes spürt Soap&Skin den Abgrund hinter den Oberflächen, und genau das macht sie so überlebensgroß, wenn sie fast schüchtern in ihrem schwarz-weißen Bühnenoutfit und dem fantastischen, in Ermangelung besserer Worte dafür: zu Dreiecken geflochtenen Haarzopf ans Klavier tritt.

Zwei Liebeslieder eröffnen das Set. „Brother of Sleep“ von Soap&Skins erstem Album „Lovetune for Vacuum“ perlt in zärtlichen Klavierkaskaden unter der einzigen Textzeile „I dreamed of you every day“, danach tritt Plaschg in der selten gespielten Coverversion „Johnsburg, Illinois“ in die Fußstapfen von Tom Waits. Auf ihrem letzten Album „From gas to solid / You are my friend“ aus dem Herbst 2018 verhandelt sie die ganz großen Fragen nach Gott und Schöpfung, Krieg, Liebe und Zukunft, und zwischen den beiden Polen monumentaler Überwältigungspop und verletzliche Innenschau bewegt sich auch die gestrige Show, kongenial unterstützt von Emily Stewart an der Geige und den beiden Martins Ptak und Eberle an den Posaunen- und Trompeten-Echos.

Man muss den Auftritt von Anja Plaschg in der Karlskirche, der schon unter normalen Popfest-Umständen vor einem abgezählten Publikum stattgefunden hätte und im Coronajahr 1 naturgemäß noch weniger Glückliche live erreicht, vor allem als symbolisches Signal betrachten. In der Kunst von Soap&Skin geht es nicht um Ehrfurcht, auch wenn die Luft im Kirchenraum unter all dem angehaltenen Atem der Menschen so elektrisch aufgeladen ist, als finge sie gleich zu glitzern an.

Vielmehr sind Songs wie der düstere „Marche funèbre“ oder das luftige „Creep“, sogar das zentrale Requiem „Vater“ und seine hoffnungsvolle Song-Antwort „Heal“, Angebote an die Hörer*innenschaft, ausgestreckte Hände, um sich gemeinsam gegen die Apokalypse zu stemmen. In schonungsloser Intimität stellt Plaschg sich selbst in Frage und lädt die Welt dazu ein, es ihr gleichzutun. Sie passt genau deswegen so gut in das Line-up des Popfests, das als kostenloses Fest und nach allen Seiten offen konzipiert ist und das in diesem Jahr dennoch als exklusives Happening stattfinden muss. „Heal me when I am in physical pain or illness, touch me, draw us close to you in our pain“, heißt es im Sprachsample inmitten von „Marche funèbre“, einem Highlight in diesem Konzert voller Highlights, und es ist das Größte, was die Kunst einem geben kann: Ein Mittel gegen die Abstumpfung, ein Trost und Antidot für alles Ungewisse, was noch kommen wird.

Soap&Skin beim Popfest 2020

Radio FM4 / David Višnjić

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