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Kindergarten: Kleine Tische, kleine Sessel, Geschirr aus Kunststoff

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Der Kindergarten ist an allem schuld

Wo verläuft die Grenze zwischen Jugend und Reife? Das ist eine Frage, die ich mir immer wieder stelle.

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

Man überschreitet die Grenze der Kindheit, wenn man im Kindergarten institutionalisiert wird. Geht man über die Schwelle des Kindergartens, sollte man sich von der Sorglosigkeit verabschieden. Man muss immer pünktlich sein, genau das, was uns unser Leben lang erwartet, mit dem Wecker aufstehen, von 9 bis 5 arbeiten und selbst unsere Freizeit ganz genau durchplanen. Man muss sich daran gewöhnen, dass man seine Mahlzeiten nicht selbst wählt, sondern die Institution, zu der man jetzt gehört. Im kleinen Köpfchen mag der Gedanke an etwas saure Johannisbeercreme sein, doch man bekommt süßen Karottenbrei, den man auch nicht in den Schuhen eines anderen Kindes verstecken darf.

Aus Spaß wird unsere Existenz zur Pflicht, aus Pflicht die Gewohnheit und aus Gewohnheit ein Dogma. Wenn man im fortgeschrittenen Alter den Drang verspürt, die Schuhe des Vorgesetzten mit Karottenbrei zu füllen, wird man von der Erinnerung an den Kindergarten angehalten. Man stellt sich die Louis-Vuitton-Schuhe voll mit Karottenbrei vor, man macht es aber trotzdem nicht, obwohl es der Chef verdient. An allem ist der Kindergarten schuld.

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Ich erinnere mich verschwommen an meinen Kindergarten. Es gab eine Pädagogin, die mich zwang zu singen. Ich wollte gar nicht singen, doch sie sagte zu mir, dass ich so meine Freude zeigen soll. Wie soll man durch Tränen singend seine Freude zeigen? Ich musste vor den anderen Kinder stehen und mit zitternder Stimme über meine Freude singen. Seitdem habe ich ein Komplex, sodass ich nicht singe, sondern heule. Diese Kindergartenpädagogin hat, wenn nicht meinen innerlichen Caruso, so doch meinen innerlichen Iggy Pop getötet. Ich erinnere mich nicht mehr an ihr Gesicht, nur an ihren Hände. Schwere Hände, die mich an der Schulter hielten. Ich habe mich gefühlt wie in einer Zange. Und seitdem sitze ich in dieser Zange fest.

Ich habe mich gefragt, wo die Grenze zwischen Jugend und Reife verläuft. Neulich habe ich diese Grenze gespürt. Unter meinem Fenster saßen Jugendliche, die laut Musik gehört haben. Die Musik kam mir schrecklich vor. Das ist natürlich egal, denn die Musik soll ihnen gefallen und nicht mir. Sie redeten laut und hörten laut Musik bis spät in der Nacht. Ich war knapp daran, mich aus dem Fenster zu lehnen und „Ruhe!“ hinauszuschreien.

Doch das ist eine Grenze, über die ich nicht gehen will. Ein Bild erschien in meinem Kopf: Ein Onkel und eine Tante gingen im Park von Schloss Schönbrunn spazieren und stritten mit den Menschen, die auf den Wiesen saßen, ohne dass sie Parkangestellte waren. Die beiden taten das als Nachmittagssport. Sie waren einfach nur sauer. Solche „besorgte Bürger“ können mich mal. In meinem Kopf erschien die Kindergartenpädagogin mit ihren Zangenhänden, die mich zum Singen zwang. Ich setzte mich demonstrativ mit meiner Tochter auf die Wiese. Sie geht schon in den Kindergarten, doch mit mir darf sie noch eine Weile ein Kind bleiben.

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