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Massive Attack

Massive Attack

Massive Attack zeigen uns Eutopia

Anfang Juli haben Massive Attack eine neue „visuelle EP“ mit dem Titel „Eutopia“ veröffentlicht.

Von Natalie Brunner

„Eutopia“ besteht aus drei komplexen, multimedialen Songs, die weiter gehen, als Protestsongs es sonst tun. Sie tragen Änderungsvorschläge und Lösungsansätze in sich. Die EP geht über den Rahmen einer Musikveröffentlichung mit Video hinaus. Massive Attack arbeiten mit der Vermischung von Medien und Kategorien. Die Stücke auf „Eutopia“ setzen auf Reizüberflutung und bestehen aus Instrumental- und Vocal-Spur, wissenschaftlichen Beiträgen und zwei Bildebenen. Morphs von Gesichtern und der vorgetragene Text animieren zum Mitlesen.

Mein Gehirn hat drei Tage gebraucht, um nach dem Konsum der EP die Lagen von Sound und Bildern zu entwirren, einzuordnen und Reaktionen auf die Emotionen zu produzieren. „Eutopia“ sickert langsam und tief. In 72 Stunden habe ich mich ihr in Ablehnung und Verwirrung genähert.

Massive Attack weisen uns im Begleittext daraufhin, dass Eutopia kein Rechtschreibfehler sei. Ein Abgesang auf die Idee der Europäischen Gemeinschaft? Die Verbannung dieser Hoffnung in die Sphäre der nicht erreichten oder erreichbaren Ideale? Kaum.

„The spirit of this EP, its elements and ideas have nothing to do with naïve notions of an ideal, perfect world, and everything to do with the urgent and practical need to build something better. In this sense, Eutopia is the opposite of spelling mistake.“

Der Begriff „Eutopia“ ist sehr alt. Er ist älter als der Begriff „Utopia“, der im Alltagssprachgebrauch dessen Platz eingenommen hat. Utopia bezeichnet einen nicht existierenden Ort, an dem persönliche Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit in Bezug auf Eigentum, Rechtsprechung und Regierung verwirklicht wären. Eutopia hingegen wäre ein Ort des idealen Wohlbefindens, der Zufriedenheit seiner Bewohner*innen, verstanden als praktisch durchführbares Konzept im Vergleich zur Utopie als Unmöglichkeit.

Thomas More, Autor des Buches „Utopia“ aus dem 16 Jahrhundert, schreibt auch über den Unterschied von Utopie als „Nicht-Ort“ und Eutopie als „gutem Ort“. In der Medizin wird der Begriff Eutopie verwendet, wenn alle Organe dort sind, wo sie sein sollen, und das tun, was sie tun sollen. Ein Zustand, von dem die Spezies Mensch weit entfernt ist, deren drei dringlichste Krankheitsbilder Massive Attack mit einer unter Berücksichtigung der Covid-19-Pandemie erstellten Diagnose bedacht haben: Klimawandel, Eigentumsverteilung und Steuerflucht des Großkapitals.

Entstanden ist das Werk während des Lock-downs an fünf verschiedenen Orten. Robert del Naja aka 3D und der Sound Engineer der Band, Euan Dickinson, teilen sich die Production Credits mit Dank an Joe Goddard von Hot Chip für „Additional Production“. Marshall Grant aka Daddy G., wie del Naja Gründer und permanentes Mitglied von Massive Attack, scheint in den Production Credits nicht auf. Die Vocals kommen von Saul Williams, Young Fathers und Algiers. Predigten, Raps und gespenstische Chöre in der Ferne liegen über den Beats von 3D, die klingen, als wären sie mit den Nebelhörnern eine Frachtschiffs auf einer sehr langen Irrfahrt komponiert.

Die Video-EP „Eutopia"wirkt, in einem Satz beschrieben, wie ein letzter dringlicher und emotionaler, mit Musik unterlegter Ted Talk. Komplexes Wissen wird auf den einfachsten, allgemein verständlichsten Nenner gebracht, um das Leben der Spezies Mensch zu ermöglichen.

Die drei Stücke "#TAXHAVENS“ (mit Saul Williams), „#UNIVERSALBASICINCOME“ (mit Young Fathers) und „#CLIMATEMERGENCY“ (mit Algiers) sind vertonte politische Forderungen und abstrakte Visualisierungen von dem, was eintreten wird, wenn wir die Probleme weiter ignorieren. Über jeden der Tracks läuft eine Spoken-Word-Spur, auf der je ein*e Wissenschafter*in darüber spricht, was für Notwendigkeiten, aber auch Möglichkeiten sich durch die Pandemie auftun.

Cover mit Gesicht

Massive Attack

So mahnt die Diplomatin Christiana Figueres, Hauptautorin des Pariser Klimaabkommens von 2015, in „#CLIMATEMERGENCY“ die Regierungen und Individuen, die Krise zum Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft zu nutzen. Der Wirtschaftsprofessor Guy Standing gibt uns in „#UNIVERSALBASICINCOME“ einen Crash-Kurs über die Vorzüge des bedingungslosen Grundeinkommens. In „#TAXHEAVENS“ spricht der französische Ökonom Gabriel Zucman, Autor des Buches „The Hidden Wealth of Nations“, über die obszönen Steueroasen und propagiert seine Idee einer „Wealth Tax“.

Der Lock-down habe die besten und schlimmsten Aspekte der Menschheit freigelegt, schreiben Massive Attack in der Pressemitteilung: „Die Phase der Unsicherheit und Angst zwang uns dazu, über den offensichtlichen Bedarf zu meditieren, die schädigenden Systeme zu ändern, nach denen wir leben. In der Arbeit mit den drei Experten haben wir einen akustischen und visuellen Dialog über diese globalen, strukturellen Themen erschaffen.“

Die Bildspur hat der mit künstlichen Intelligenzen arbeitende Künstler Mario Klingemann animiert.

3D hat sich nicht nur musikalisch und intellektuell mit den Konsequenzen der Pandemie und ihren Einflüssen auf andere globale Krisen beschäftigt. Er hat außerdem durch den Verkauf von Massive-Attack-Kunstdrucken über 100.000 Pfund zusammengebracht und gespendet, um Risikogruppen und Personen in medizinischen und Pflegeberufen in seiner Heimatstadt Bristol mit Lebensmitteln zu versorgen.

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