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Guardian Cover: Johnson mit Krabben in der Hand

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Bis zum allerletzten Kreuzworträtsel

Zur zugegebenermaßen kleineren Katastrophe des galoppierenden Verfalls der britischen Medienlandschaft.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ganz ehrlich gesagt: Danke fürs Hierher-Klicken, angesichts der Katastrophen und des Wahnsinns von Beirut bis Berlin via Washington und Wien mag eure Kapazität zur Wahrnehmung im Vereinigten Königreich fabrizierter Farcen aller Färbungen begrenzt sein, aber wie immer lässt sich einiges hier auch als mögliche Parallelerzählung für bei euch gerade ablaufende Dinge lesen.

Wie anzunehmenderweise bei euch auch, hat sich der öffentliche Diskurs hier in den letzten Monaten perspektivisch derart radikal verengt, dass mittlerweile so Einiges an ignoriertem Geschehnis irgendwo hinter dem Bildschirm herumkrabbelt.

Ein Beispiel, nicht ganz wahllos aus der Fülle geschöpft, sondern weil heute 75 Jahre Hiroshima-Tag ist:

Just wenn man glaubt, das offizielle UK habe mit seinen beharrlich realitätsfernen Brexit-Positionen in Sachen internationale Beziehungen bereits sein unhilfreich Schlimmstes getan (inzwischen greift der Ex-Tory-Chef und Erz-Brexiteer Iain Duncan Smith sogar schon das gerade noch als bester Deal seit vorgeschnittenem Toastbrot gepriesene Withdrawal Agreement an und zerstört damit den letzten Rest vom guten Ruf seines Landes als Verhandlungspartner), stellt sich heraus, dass der britische Verteidigungsminister Ben Wallace sich im April unter der Deckung des Höhepunkts der britischen Coronakrise in die US-Innenpolitik einmengte, und zwar aufseiten der dortigen Rüstungslobby, die umstrittene neue Nuklearsprengköpfe herstellen will. Wallace steht dahinter, denn genau solche Bomben wünscht er sich um ein paar zig Milliarden für das nukleare britische Abwehrsystem Trident. Weil die Welt gerade keine anderen Prioritäten hat.

Von diesen Aktivitäten erfahren konnte man - wieder einmal - nur im Guardian, der heutzutage immer häufiger die von einer zunehmend selektiven BBC hinterlassenen Berichterstattungslöcher füllt. Und das ist auch nicht gerade beruhigend, denn jener mitte-mitte-links-liberalen Tageszeitung geht es Corona-bedingt gerade ziemlich besorgniserregend mies.

So mies, dass Mitte Juli 180 Mitarbeiter*innen gefeuert werden mussten, vor allem auf Kosten diverser Beilagen in der Samstags-Ausgabe, darunter The Review, eine der letzten großen Plattformen für Buchkritiken in der britischen Tagespresse.

Das Verständnis im Hause Guardian für die von der Chefin der Guardian Media Group Annette Thomas und Chefredakteurin Katherine Viner getroffene, schwere Entscheidung wäre sicher größer gewesen, wäre in derselben Woche nicht der jüngste Geschäftsbericht erschienen, in dem drin steht, dass Erstere umgerechnet 687.000 Euro plus Bonus und Zweitere 426.000 Euro pro Jahr verdient. Korrektur: Als Geste der Solidarität mit der Belegschaft haben beide für sechs Monate freiwillig auf 20 Prozent ihres Gehalts verzichtet.

So viel Großmut berührt Leute wie mich, einen der letzten Deppen, die jährlich noch rund 600 Euro für ein Abo der Papier-Ausgabe hinlegen (den Observer am Sonntag erspar’ ich meinen Nerven), um allmorgendlich erschöpft festzustellen, dass jene Printversion das Abnehmen ihres Seiten-Volumens mit sinnlos riesigen Farbfotos kompensiert, während so viele der in meinen Kolumnen hier regelmäßig verlinkten, sonst nirgends mehr zu findenden News-Stories immer häufiger nur mehr online erscheinen.

So sehr man den Guardian kritisieren mag (Vorwürfe der Transphobie oder tendenziöser Berichterstattung gegen die Labour-Linke füllen verlässlich meine Timeline), demokratiepolitisch hat sein für die weitere Medienlandschaft symptomatisches Schwächeln wie gesagt durchaus bedrohliche Implikationen, nicht zuletzt, nachdem erst im Mai eine kritische Online-Plattform wie das hierzulande nicht unwichtige Buzzfeed von einem ernsthaften Nachrichtenmedium auf eine Meme-Maschine reduziert wurde.

Wie sicher sich Boris Johnson vor Medien-Kritik fühlen kann, demonstrierte er in der Woche nach dem endlichen Erscheinen eines seit letztem Jahr unterdrückten, vernichtend kritischen Reports des parlamentarischen Intelligence & Security Commitee zum russischen Einfluss auf die britische Politik, begleitet von rätselhaftem Desinteresse seitens der eigenen Regierung und ihrer Geheimdienste. Aber nebenbei - damit offensichtlich zusammenhängend - auch zur Doppelrolle Londons als diskreter „Laundromat“ zur Wäsche schmutzigen Oligarchengelds, während 14 Minister*innen derselben britischen Regierung, die nach außen gerne lauthals wacker wider den Kreml poltert, hinter den Kulissen selbst die Hand aufhielten.

"Now Tame The Russian Bear" - Daily Mail Schlagzeile

Robert Rotifer

Wie Großbritannien funktioniert in einer Daily Mail-Titelseite: In der oberen Hälfte für’s Herz die Militarisierung des Prinzenkinds, in der unteren der Ruf zur Zähmung des „russischen Bären“, während man gleichzeitig das große Geldwäsche-Ermöglichungs-Projekt Brexit pusht

Der Premierminister also reagierte auf diese ernsten Vorwürfe, indem er im Rahmen einer schamlos mit Günstlingen gefüllten Honours List mit Evgeny Lebedev einen der auffälligsten jener Oligarchen adelte bzw. ins House of Lords holte.

Lebedev hatte sich seinen Status durch den Kauf des mittlerweile nur mehr online erscheinenden Independent und des vom ehemaligen Schatzkanzler George Osborne geführten Londoner Gratis-Blatts Evening Standard erworben.

Vor dem Hintergrund dieser offenen Korruption des Verhältnisses zwischen Medien und Politik will man ihn dann lieber doch nicht missen, den Guardian.
Auch wenn einer wie Johnson, wie er mit solchen Ernennungen weidlich demonstriert, natürlich weiß, dass die tägliche Kritik von dieser Seite ihm schon lange nichts mehr anhaben kann.

Zu einem weiteren neuen Lord hat er übrigens seinen Europa-freundlicheren Bruder Jo Johnson ernannt. Dessen Partnerin Amelia Gentleman schreibt beim Guardian gute und wichtige Reportagen über die feindselige, britische Einwanderungspolitik - um zu verstehen, wie sich das seelisch ausgeht, muss man wohl auch in besseren britischen Kreisen aufgewachsen sein.

Mein Freund Darren jedenfalls kauft die Zeitung derzeit wieder regelmäßig als Gegengift zur Daily Mail, auf deren täglicher Dosis Hass seine Mutter besteht, die er nach ihrer Covid-Erkrankung jede zweite Woche pflegt. Er hat mir versprochen: Wenn einmal die letzte Guardian-Print-Ausgabe erscheint, kommt er mich besuchen, und wir lösen gemeinsam das allerletzte Kreuzworträtsel. Das war nur ein halber Scherz. Den Tag werden wir erleben (health permitting), es fragt sich bloß wie bald.

Neulich erst wurde nach 34 Jahren Bestehen mit dem ehemaligen Marktführer Q, eines der letzten großen Monats-Musikmagazine des Landes, eingestellt.

Nein, ich hab Q selbst seit vielen Jahren nicht mehr gekauft, aber man sagt, dass das Magazin unter seinem letzten Chefredakteur Ted Kessler ernsthafte, wenn auch von der weiteren Öffentlichkeit (wie man in solchen Fällen gern zu sich selber sagt) wenig registrierte Bemühungen unternommen habe, die weiße, männliche Rock-Hegemonie des Formats zu brechen. Indem man etwa (Wahnsinn!) Grime-Rapper*innen interviewte. Oder sogar Frauen aufs Cover nahm, die nicht Kate Bush oder Joni Mitchell heißen.

Letztes Cover von Q

Robert Rotifer

Die letzte Woche erschienene Abschiedsausgabe von Q

Die verbliebene Leserschaft (absichtlich nicht gegendert) wusste das nicht in ausreichenden Maßen/Massen zu goutieren, eine neue Leser*innenschaft konnte man auch nicht erreichen, aber am Ende war es natürlich das Coronavirus, das dem von Laufkundschaft und Inseraten abhängigen Magazin den Garaus machte.

Und nur zur Abwechslung fühlte sich davon einmal, soweit ich sehen konnte, absolut niemand zur Häme inspiriert. Einerseits, weil auch die verbliebene Konkurrenz bloß an einem seidenen Faden hängt. Andererseits, weil es ohnehin nur mehr die mitkriegten, die Q mochten.

Nichts sagt so viel über den Verfall der einst so mächtigen britischen Musikpresse, wie der Umstand, dass sich niemand mehr zu finden scheint, der sie leidenschaftlich hasst.

PS: Kleiner, ziemlich frischer Twitter-Thread von einem britischen Juristen des Good Law Project über den interessanten Fall einer von einem Mitarbeiter einer britischen Ministerin gegründeten Firma, die gegen Provision um 150 Millionen Pfund Masken für das Gesundheitssystem anschaffen durfte (die sich als die falschen Masken herausstellen sollten). Könnte bei euch nie passieren sowas, oder?

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