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In „Was Nina wusste“ kämpfen drei Generationen mit einem Familiengeheimnis

Vor über 50 Jahren hat Gilis Großmutter Vera eine Entscheidung getroffen, die bis heute nachwirkt. Bestsellerautor David Grossman führt uns in seinem israelisch-jugoslawischen Generationenroman in das Leben von drei Frauen ein und zeigt, welche Formen Verrat annehmen kann.

Von Lena Raffetseder

Die 90-jährige Vera, ihre Tochter Nina und ihre Enkelin Gili, sie sind die Protagonistinnen in David Grossmans Roman und irgendwas ist zwischen diesen Frauen vorgefallen. Nina ist am Beginn nur dadurch präsent, dass Erzählerin Gili die Verfehlungen ihrer Mutter schildert. Denn wie im Leben ihrer Tochter ist Nina auch im Roman über weite Strecken abwesend. Als Gili erst drei Jahre alt ist, verlässt Nina ihre Familie und Israel. Sie reist umher, scheinbar immer auf der Flucht und auf der Suche.

Irgendetwas stimmt nicht in diesen Beziehungen, Vera hat beinahe eine Abneigung gegenüber ihrer Tochter, Nina und Gili behandeln sich wie Fremde. Das wird klar, als Nina ihre Familie anlässlich des 90. Geburtstags der Mutter in Israel besucht. Und laut Erzählerin Gili ist ihre Mutter verändert.

„Sie umklammert mich, diese Frau, die mich vor sechsunddreißig Jahren aus ihrem Leben geschnitten hat, sie hat mich abgetrieben, es war wirklich eine Abtreibung, wenn auch mit der netten Verspätung von dreieinhalb Jahren, denn ich war ja bereits auf der Welt, die arme Gili war ja schon geboren.“

Cover von David Grossmans Roman "Was Nina wusste"

Hanser Verlag

„Was Nina wusste“ von David Grossman ist am 17. August im Hanser Verlag erschienen. Aus dem Hebräischen übersetzt hat Anne Birkenhauer.

Nina bringt erschütternde Nachrichten mit, bei ihr ist Alzheimer im Frühstadium diagnostiziert worden. Sie will ihre Erinnerungen sichern und für später aufbewahren. Deshalb soll Gili einen Film über das Leben von Großmutter Vera machen. Denn „Was Nina wusste“, wie der Roman heißt, ist eigentlich recht wenig. Sie hat es immer verabsäumt, mit ihrer Mutter über die Familiengeschichte zu reden. Die Frauen reisen nach Kroatien, wo Vera an den Schauplätzen ihrer Vergangenheit von ihrer Kindheit, dem ersten Mann, dem Krieg und der Gefangenschaft unter Tito erzählen soll.

Inhaftierung in „Titos KZ“

Zentral für Veras Lebensgeschichte ist die Gefängnisinsel Goli Otok. Die Adriainsel liegt zwischen den Inseln Krk und Rab. Zehntausende politische Gefangene wurden unter Tito von 1949 bis Ende der 80er Jahre nach Goli Otok (dt. „nackte Insel") gebracht, offiziell zur politischen „Umerziehung“. Die Häftlinge mussten sinnlose, schwere Arbeit verrichten, den eigenen Status konnte man verbessern, indem man andere denunzierte. Eine Flucht war unmöglich.

Eine echte Aufarbeitung dieser Geschichte hat nicht stattgefunden, heute ist die Insel Ausflugsziel für Tourist*innen. Goli Otok wirkt nach, schildert Gili, auch Generationen später: „Das ist die Insel, auf der sich ein Großteil meiner Kindheit und Jugend abgespielt hat, obwohl ich niemals dort gewesen bin.“

Eine wahre Geschichte

Erzählerin Gili scheint mehr über Veras Leben zu wissen, macht Andeutungen. Lesende sind aber genauso ahnungslos wie Nina: „Meine süße, komische, großzügige, warme, absolut hingebungsvolle, fanatische, sture, brutale Großmutter. Großmutter und Wolf in einem. Wie hält man das aus? Wie hält man aus, was sie Nina angetan hat? Und wie kann ich ich bleiben und sie weiter lieben?“

David Grossman, der für seinen Roman „Kommt ein Pferd in die Bar“ 2017 den Man Booker Prize gewann, erzählt in „Was Nina wusste“ die Geschichte von Eva Panić-Nahir (1918-2015), die zweieinhalb Jahre auf Titos Gefängnisinsel inhaftiert war. Grossman war beeindruckt von Panić-Nahirs Kraft und erstaunt über die Starrheit ihrer Grundsätze, die er in der fiktiven Person der Vera darstellt. „Ihre Entscheidungen“, sagt Grossman, „sind wie solche, die man aus griechischen Tragödien kennt“.

Diese Entscheidungen und wie sie Generationen später nachhallen, seziert Grossman aus den Blickwinkeln der drei Frauen. Der Beginn von „Was Nina wusste“ ist, aufgrund der anfangs geschilderten Familienverhältnisse (Gilis Eltern sind Stiefgeschwister) etwas verwirrend. Aber spätestens, wenn die Frauen sich nach Kroatien aufmachen, fühlt man sich dank Grossmans einfühlsamer Beschreibung, als wäre man selbst mit auf dieser aufwühlenden Reise.

Der Roman ist Biografie, Geschichtsstunde und Familiendrama. Man bleibt zurück mit einem Gefühl von Verständnis, aber man kann auch sehr gut nachvollziehen, wie schwer es den Frauen mit der Erkenntnis geht, dass man „rückwirkend nichts mehr reparieren kann“.

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