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Melisa Erkurt: „Generation haram“

Die Lehrerin und Journalistin Melisa Erkurt will Bildungsverlierer*innen ihre Stimme leihen. In „Generation haram“ erörtert sie, was im österreichischen Schulsystem falsch läuft und was sich ändern müsste, damit Schule ein „Safe Space“ für alle wird.

Von Sophie Liebhart

Den Titel für ihr Buch „Generation haram“ hat sich Melisa Erkurt quasi von sich selbst ausgeborgt. 2016 hat sie für das Magazin biber einen Artikel mit demselben Titel geschrieben, über radikale Tendenzen und eine neue Verbotskultur mitten in Wien. Zentral dabei das Wort „haram“, ein arabisches Adjektiv, das all das beschreibt, was laut der Scharia verboten ist.

Damals war Melisa Erkurt, die selbst ausgebildete Lehrerin ist, für das biber-Schulprojekt „Newcomer“ in sogenannten „Brennpunktschulen“ in Wien unterwegs. Der Anteil von Schüler*innen mit Migrationshintergrund dort ist hoch, die meisten kommen aus bildungsfernen Elternhäusern, Melisa Erkurt arbeitete auch mit vielen Jugendlichen aus muslimischen Familien. Die Reportage über ihre Erfahrungen in diesem schulischen Setting wurde 2017 bei den Österreichischen Journalismustagen als Story des Jahres ausgezeichnet.

Buchcover "Generation haram"

Paul Zsolnay Verlag

„Generation haram“ von Melisa Erkurt ist im Paul Zsolnay Verlag erschienen.

Grenzen überwinden

Das österreichische Schulsystem mit all seinen Schwächen hat Melisa Erkurt weiterhin beschäftigt. Als Kind ist sie mit ihren Eltern aus Bosnien nach Österreich gekommen. In ihrer Schullaufbahn hatte sie laut eigenen Schilderungen das Glück, dass sie an Pädagoginnen geraten ist, die an sie geglaubt haben. So konnte sie so manche Hürde überwinden, die für andere Muslim*innen im österreichischen Schulsystem unüberwindbar erscheinen.

Melisa Erkurt hat studiert und als Lehrerin gearbeitet. Doch sie bezeichnet sich selbst als eine Ausnahme. Denn am Ende eines Schuljahres hat sie ihre Klassen oft mit dem Wissen entlassen, dass die meisten ihrer Schüler*innen nie ausreichend gut Deutsch sprechen werden, um ihr vorgezeichnetes Schicksal zu durchbrechen.

Auch deshalb hat sich Melisa Erkurt dazu entschieden, ihren Job als Lehrerin hinter sich zu lassen und wieder als Journalistin zu arbeiten. „Es ist wahrscheinlich die schwierigste berufliche, aber auch generelle Entscheidung meines Lebens. Ich musste aber einfach ausloten, was noch alles möglich ist." Sie möchte den Verlierer*innen des Bildungssystems ihre Stimme leihen. Denn dieses System muss sich ändern, schreibt Melisa Erkurt in ihrem Buch.

Ein essentieller Punkt ist für Melisa Erkurt der der Repräsentation: „Woher sollen sie auch die Motivation nehmen, das Schicksal zu durchbrechen, wenn da niemand ist, der als Vorbild dient, der an sie glaubt? Und eines kann ich Ihnen sagen: Es braucht unfassbar viel Motivation, so viel, wie man von keinem Kind verlangen kann, um diese ungeheure Anstrengung aufzuwenden, gegen das vererbte Bildungsschicksal anzukämpfen.“

Kritik am Schulsystem

Bildung wird in Österreich in den allermeisten Fällen vererbt und aus diesem Muster auszubrechen, ist enorm schwierig. Diese Kritik ist nicht unbedingt neu. Melisa Erkurt bringt sie in ihrem Buch aber sehr zugespitzt auf den Punkt: Das Schulsystem sei an der gesellschaftlichen Mittelschicht ausgerichtet und sortiere Schüler*innen aus weniger bildungsaffinen Familien automatisch aus.

„Die Halbtagsschule, wie sie in Österreich noch immer die Regel ist, setzt die aktive Mitarbeit der Eltern am Schulerfolg ihrer Kinder voraus. Die Eltern haben hierzulande eine riesengroße Bedeutung für den Bildungserfolg des Nachwuchses – erst wenn man diese Verantwortung auslagert, kann die Vererbung der Bildung gestoppt werden.“

Melisa Erkurt berichtet auch, wie schon häufig in ihrer Kolumne im Falter, von Rassismus an österreichischen Schulen:

„Wenn alle Migrantinnen und Migranten, die ich in Österreich kenne, in der Schule Diskriminierung durch ihre Lehrerinnen und Lehrer erfahren haben, dann ist das etwas, das ernst genommen werden muss. (...) Wir müssen die Lehrpläne an Universitäten darauf ausrichten und auch verpflichtend Fortbildungsseminare für Lehrpersonen mit diesem Schwerpunkt einführen. Solange das nicht passiert, ist das ein klares Zeichen, dass die Bildungspolitik die Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten nicht ernst nimmt und nicht wichtig genug, um dagegen vorzugehen.“

Rassismus sei ein politisches Problem, schreibt Melisa Erkurt, und müsse auch auf politischer Ebene gelöst werden. Die (Bildungs-)Politik sei jedoch oft diskriminierend und habe ausbleibende Bildungserfolge von Schüler*innen mit Migrationshintergrund zur Folge.

Schule als „Safe Space“

Melisa Erkurts Schlussfolgerungen basieren zu einem großen Teil auf persönlichen Erfahrungen. Als Migrantin, Muslimin, Lehrerin und Journalistin gilt sie als die Expertin, wenn es um Bildungsfragen in diesen Bereichen geht. Das trägt sicherlich zum Hype um ihre Person bei. Was ihre Kritikpunkte aber nicht weniger schwerwiegend macht.

„Es ist höchste Zeit, dass Schule in einem Einwanderungsland wie Österreich lernt, wie man mit Kindern, die eine andere Herkunft haben, gerecht umgeht“, schreibt Melisa Erkurt. Schule soll für alle Kinder ein sicherer Ort, ein „Safe Space“ sein. Damit das gelingt, hat die junge Journalistin konkrete Forderungen: Es braucht, kurz gesagt, Beraternetzwerke, interkulturell geschultes Personal und ein heterogenes Klassenzimmer.

Darüber hinaus plädiert Melisa Erkurt dafür, gezielt Migrant*innen als Lehrer*innen anzuwerben, Kindergartenpädagog*innen und Lehrkräfte verstärkt mit Fachteams aus Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen zu unterstützen, den Deutschunterricht neu zu konzipieren und eine verpflichtende, kostenlose Ganztagsschule für alle einzuführen.

Wunschdenken? Nachdem man „Generation haram“ gelesen hat, kann man sich all diesen Forderungen eigentlich nur anschließen. Nicht nur ist das Buch ein Must-read, wenn man wissen will, was an österreichischen Schulen im Moment falsch läuft, es sind auch die Forderungen ein Must-talk-about. Es braucht Diskussionen mit Expert*innen und neue politische Konzepte und Lösungen.

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