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Mišel Matičević geht eine Straße mit Einfamilienhäusern entlang. Filmszene aus "Exil" von Visar Morina.

Alamode Film

Der Psychothriller „Exil“ trifft den Nerv der Zeit

Mišel Matičević und Sandra Hüller sind in „Exil“ ein Paar, dessen Alltag zunehmend bedrohlich wird. Regisseur Visar Morina trifft mit seinem Psychothriller den Nerv der Zeit. „Exil“ ist herausragendes deutsches Kino.

Von Maria Motter

Mišel Matičević ist nicht nur einer der attraktivsten Männer im deutschen Film und Fernsehen. Er ist einer der talentiertesten Schauspieler. In Visar Morinas einnehmendem, weil zudem atmosphärisch exzellent gemachtem Psychothriller „Exil“ spielt der fünfzigjährige Berliner einen dreifachen, liebenden Familienvater und Angestellten eines Pharmakonzerns (mittleres Management, mit noch einem Kollegen im Zimmer).

Dass dessen Welt gerade nicht so geschmeidig läuft, bemerkt man an seinem Haarschnitt. Einen Zentimeter zu lang sind die Haare, überfällig. Das fällt als Erstes auf, als Mišel Matičević als Xhafer Kryeziu eine ruhige Wohnstraße entlanggeht. Dann fällt der Blick auf eine tote Ratte, die am Gartentürl der Familie in einer Schlinge hängt.

Sandra Hüller und Mišel Matičević spielen ein Paar im Psychothriller "Exil".

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Visar Morina hat mit Mišel Matičević, Sandra Hüller und Rainer Bock ein Kammerspiel der Bedrängnis und Bedrohung inszeniert. „Exil“ hatte am Sundance Festival Premiere und kommt diese Woche in die österreichischen Kinos.

Im Haus stillt Sandra Hüller als Nora das dritte gemeinsame Kind und ringt mit ihrer Doktorarbeit. Doch Paarbeziehungsprobleme werden hier nicht im Sekundentakt ausgebreitet.

„Exil“ erzählt von sozialer Ausgrenzung, vom finanziellen Druck eines Familienvaters, vom Gewicht der Wahrnehmung durch andere, in einer Atmosphäre der Paranoia, die einen zu Fall bringen kann.

Wie in der Niederlassung des Pharmakonzerns die Äffchen in einem Käfig, die nur für wenige Sekunden an Xhafer vorbeigerollt werden, als er zu Laborplätzen eilt, scheint der Horror zum Greifen nah, muss uns aber nicht vorgeführt werden. Da liegt Gewaltiges in der Luft in den niedrigen Gängen und Sitzungszimmern der Firma wie im stets lichtgedimmten Zuhause. Alle kriegen das Memo zur Besprechung, nur Xhafer kommt zu spät. Kleinigkeiten im Alltag sind verrückt, der Druck steigt, der Schweiß perlt an der Stirn und die Wahrnehmung wird selektiv.

Von Regisseur Visar Morina stammt auch das Drehbuch. „Beim Schreiben hatte ich zwei Schauspieler, die ich sehr liebe und sehr schätze, im Kopf, die ich unbedingt haben wollte: Sandra Hüller und Rainer Bock. Sandra hat ja eine Art zu spielen, wahnsinnig im Moment, und man weiß eigentlich nicht, was als Nächstes kommt. Also sie kann einen knutschen oder schlagen, beides ist möglich sozusagen“, erzählt der 41-Jährige, der sehr vom Theater geprägt ist. „Und Mišel, die Art und Weise, wie er spielt, hatte diese Körperlichkeit. Mir ging es aber in keinster Weise darum, da einen Mann-Mann zu haben.“

Mišel Matičević sitzt auf einem Sessel und schaut bedrückt. Filmszene aus "Exil" von Visar Morina.

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Alle haben das Memo zur Besprechung erhalten, nur Xhafer (Mišel Matičević) nicht. Wie rassistisch ist diese Gesellschaft?

Die Atmosphäre der gesellschaftlichen Paranoia verfilmt

Die Impulse zur Geschichte kamen in den Jahren 2015/2016. Im Jahr zuvor, als die Ressentimentbewegung Pegida groß wurde, hatte sich Visar Morina noch über die ersten Demonstrationen gefreut, weil er den Eindruck hatte, dass der tief verankerte Rassismus nach außen kehrt und so sichtbar wird, dass man sich als Gesellschaft damit auseinandersetzen muss. „Fakt war aber, dass Rassismus noch salonfähig wurde“, sagt Visar Morina.

„Deutschland und Österreich haben ja ein bisschen einen unterschiedlichen Umgang. In Österreich gab es ja Plakate, die es zum Glück in Deutschland nie so hätte geben können. Das hat sich mit 2015, mit dieser Silvesternacht, sehr deutlich verschoben und verändert. Und es gibt Bundestagsabgeordnete, die Dinge sagen, wo ich wirklich faktisch Angst bekomme.“

Auch fünf Jahre später ist sehr wenig über die Taten in der Kölner Silvesternacht 2015 bekannt. „Von dieser Silvesternacht weiß man im Endeffekt wahnsinnig wenig. Weil es war nachts, es war laut, es war dunkel und es war schnell. Aber im Grunde genommen war gar nicht so wichtig, was passiert ist, sondern was daraus gemacht worden ist und wie sich eine Stimmung verschiebt und wie aus meiner Sicht eine Paranoia umgeht. Es gab ja sehr große Teile der Bevölkerung, die 2015 die Notwendigkeit eingesehen haben, einfach Menschen auf der Flucht zu helfen. Und diese Einsicht wurde 2016 dann sehr gering. Das führte dazu, dass es einen [deutschen] Innenminister gab, der an seinem 69. Geburtstag eine Pressekonferenz hielt und damit Witze machte, dass an diesem Tag 69 Afghanen abgeschoben wurden und man solle das bitte nicht als Geschenk an ihn verstehen. Wenn es scherzhaft oder möglich erscheint, auf dieser Ebene Witze zu machen, dann ist aus meiner Sicht eine eindeutige Verschiebung notwendig, sonst ist das gar nicht möglich.“

Mišel Matičević in einem Aufzug voller Arbeitskolleg*innen. Filmszene aus "Exil".

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Wer welche Grenze zieht

Visar Morina ist im Kosovo geboren. Seit er fünfzehn ist, lebt er in Deutschland. „Man weiß vom Kosovo eigentlich, zumindest in Deutschland, seit dem Krieg. Davor musste ich nicht nur meinen Namen fünf Mal sagen, sondern auch auf ‚Wo? Wo ist das?‘ antworten.“

Auch der Hauptfigur in „Exil“ hat er das Geburtsland Kosovo zugeschrieben. Der Grundkonflikt sei ihm vertraut, sagt der Regisseur. Besser integriert als der zentrale Charakter Xhafer im Film kann man eigentlich nicht sein. Morina ging es um die Grenzziehung, die gemacht wird. Türk*innen würden in Berlin nicht wie US-Amerikaner*innen angesehen. Auf bestimmte Länder, die gemeinhin nach wie vor als Zweite oder Dritte Welt bezeichnet werden, wird mit einer gewissen Arroganz geschaut.

Wie schnell wieder Grenzkontrollen eingeführt worden sind, beschäftigt Visar Morina. „Ich habe ja einen sehr besonderen Zugang zu Grenzen. Es ist mit das Schönste, das es in Europa gibt, dass es sie halt nicht gibt. Das ist eine sehr große Errungenschaft. Und es ist erstaunlich zu sehen, wie schnell etwas, um das man vielleicht Jahrhunderte gekämpft hat, innerhalb so kurzer Zeit im Gegenteil selbstverständlich wird.“

Sandra Hüller sitzt an einem Schreibtisch und schaut zur Seite, wer in den Raum kommt. Szene aus dem Film "Exil".

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Das Drehbuch von „Exil“ geht von einem Ton aus

Für das Drehbuchschreiben war eine Stimmung zentral. „Ich ging eigentlich wie von einem langen Musikstück aus, wo ein Ton bleibt und immer neue Töne hinzukommen und verschwinden, aber dieser Ton bleibt. In diesen Prozess sind unweigerlich ganz viele Themen mit reingekommen. Das ist das eine. Das andere ist, ich merke, wie viele Dinge bei mir parallel stattfinden. Dieses parallele Nebenbei-Existieren von ganz vielen drängenden oder weniger drängenden Fragen und Problemen“, erklärt Visar Morina, der auch sechzehn Stunden am Tag Musik hören mag.

„Ich habe leider viel zu spät neue klassische Musik entdeckt. Ich bin ein glühender Schnittke-Verehrer, der haut mich völlig um. Lizst finde ich auch interessant. Can höre ich seit zwanzig Jahren, Die Einstürzenden Neubauten, dann gibt es noch einen italienischen Komponisten: Scelsi. Auch Scott Walker – der hat früher Popmusik gemacht und irgendwann, ich weiß gar nicht, was in seinem Leben passiert ist, da bringt der so ein Album, das heißt ‚Tilt‘. Es klingt superschräg, man muss es ein paar Mal hören. Der hat mich über die ganze Corona-Zeit begleitet.“

Mit Begriffen wie Männlichkeit, Identität und Nation tut sich Visar Morina zunehmend schwer, sagt er. Die Uneindeutigkeit zieht auch in seinem Psychothriller „Exil“ insgeheim die Fäden. Doch wem kann man hier trauen, Xhafers Wahrnehmung oder den anderen. Die Filmmusik von Benedikt Schiefer fügt sich hervorragend zum Schauspiel. „Exil“ unterhält einen mit seiner Atmosphäre aus Verdachtsmomenten und dem Versuch zu vertrauen bis zum Ende mit Spannung.

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