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Schüler demonstrieren in Großbritannien

APA/AFP/Paul ELLIS

robert rotifer

„Fuck the algorithm“

Wie ein Algorithmus den Britischen Traum vom individuellen Aufstieg zu zerstören drohte. Der Widerstand der britischen Schüler*innen gegen automatisierte Benotung mag die Regierung zur Umkehr gezwungen haben. Das System der Ungleichheit blieb aber (vorerst?) unberührt.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Man muss ja nicht alles auf der Welt verstehen, aber angenommen, ihr hättet trotz all der abschreckenden Erfahrungen der letzten Jahre – vielleicht aus popkultureller Sentimentalität – immer noch Lust darauf zu ergründen, wie die britische Gesellschaft tickt (bzw. ihre Einzelteile lose im Gehäuse scheppern).

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Es klingt nicht sexy oder glamourös, aber der beste Einstieg dafür wäre das britische Schulwesen (es „Schulsystem“ zu nennen, wär schon irreführend). Da ist nämlich so gut wie alles zu finden:

Die Konkurrenzbesessenheit. Die fest einzementierten Klassenhierarchien. Die Heuchelei der Pseudo-Meritokratie. Die Traditionshuberei vermischt mit paternalistischem Interventionsdrang. Und der unterschwellige Hass/Neid auf die jeweils jüngere Generation.

Diese ohnehin schon reichlich toxische Welt wurde in den letzten Tagen durch einen handfesten Skandal erschüttert, der das Selbstverständnis der britischen Gesellschaft in seinem Innersten in Frage stellte.

Wenn letzte Woche Teenager*innen das Unterrichtsministerium mit Plakaten belagerten, auf denen „Fuck The Algorithm“ stand, dann war das kein Protest gegen den Mathelehrplan, sondern der Beginn einer Auseinandersetzung, die bald auf vielen Schauplätzen des Lebens stattfinden wird.

Schülerinnen demonstrieren in Großbritannien

APA/AFP/Paul ELLIS

Eine schnelle Zusammenfassung der konkreten Umstände kann ich uns hier nicht ersparen, aber wer vom britischen Schulwesen gar nichts wissen will, kann notfalls auch die nächsten vier Absätze überspringen:

Im Vereinigten Königreich gehen alle bis 18 zur Schule. Es gibt staatliche Gesamtschulen, sogenannte „comprehensive schools“, aber nur dem Namen nach, denn: Manche davon sind „besser“, andere „schlechter“, je nach ihrem Rang in der Notenstatistik. Dementsprechend bemühen sich Eltern, ihre Kinder in „besseren“ Schulen unterzubringen. Grob gesagt: Je „besser“ die Gegend, desto „besser“ die Schule bzw. umgekehrt: Das Vorhandensein „besserer“ Schulen ist eine entscheidende Triebfeder der britischen Hauspreisinflation, die wiederum soziale Segregation nach geographischen Kriterien (dem Einzugsbereich „besserer“ Schulen) fördert.

Neben der Wohnadresse gibt es aber auch noch andere schulische Selektionskriterien, zum Beispiel Glaubenszugehörigkeit (es gibt öffentlich geförderte „faith schools“ verschiedener Denominationen), verdeckte oder offene Aufnahmeprüfungen (wie etwa in meiner Gegend der „Kent Test“ für Volksschulabgänger*innen) und letztlich natürlich Geld: Der größte Witz am britischen „Gesamtschul“-System ist ja nämlich, dass zeitgleich dazu ein elitäres Privatschulwesen existiert. Diese historisch verwirrenderweise „public schools“, moderner und euphemistisch „independent schools“ genannten, meist als Internat geführten Institutionen genießen wiederum privilegierten Zugang zu den Eliteuniversitäten der Russell Group, insbesondere Oxford und Cambridge (kurz „Oxbridge“). Wer auf diese Weise einmal seinen Platz in der Sekundärschule ergattert hat, muss am Ende des elften Jahres eine Art Vor-Matura, die GCSEs, hinter sich bringen.

Am Ende des dreizehnten und letzten Schuljahrs legt man dann eine Art Matura in mindestens drei Wahlfächern ab, die A-Levels, die man sich mit Hinblick auf das erwünschte Studienfach ausgesucht hat. Zu Beginn jenes letzten Schuljahrs geben die Lehrer*innen jeder Schule ihre auf früheren Leistungen beruhenden Einschätzungen darüber ab, welche Noten (A*, A, B, C, D, E, U) ihre Schüler*innen bei den landesweit abgehaltenen A-Levels erreichen werden.

Diese Einschätzungen sind dann die Grundlage, auf der sich die Schüler*innen bei bis zu vier Universitäten um Plätze bewerben. Wenn sie es gut anstellen, bekommen sie Angebote von den erwünschten Unis, die danach allerdings an das Erreichen der ihnen vorausgesagten Noten bei den A-Level-Prüfungen gebunden sind. Selbst im allerbesten Fall ist dieses System also ein Rezept für größtmöglichen Stress. Erst Mitte August, wenn die A-Level-Resultate aus den privatisierten Benotungsfabriken zurückkommen, wissen die 18-Jährigen, an welcher Uni und in welcher Stadt sie ab dem nächsten Monat ihre nächsten drei (normal) bis sechs (Medizin) Jahre verbringen werden bzw. ob sie überhaupt studieren können.

Nun konnten heuer ja keine A-Level-Prüfungen abgehalten werden, und das verursachte im Department for Education (Unterrichtsministerium) und Ofqual (der Schulaufsichtsbehörde) großes Kopfweh, denn der von den Lehrer*innen vorausgesagte Notenschnitt ist tendenziell ein wenig höher als das, was bei den Prüfungen rauskommt. Die Gefahr war also, dass – wenn man nach den Beurteilungen der Lehrer*innen geht – zu viele Schüler*innen die von ihnen angestrebten Uni-Plätze erreichen könnten.

Schließlich hatte man gerade erst aus Budgetgründen an den begehrten Unis die mögliche Zahl der Neuinskribierten begrenzt. Das Department for Education stellte also an Ofqual (Chefin Sally Collier) die Aufgabe, solch einer drohenden „Noteninflation“ Einhalt zu gebieten.

Und Ofqual lieferte die erwünschte Antwort in Form eines Algorithmus, der auch ohne Prüfungen „faire“ Noten für alle Schüler*innen errechnen sollte.

Die von den Lehrer*innen vorausgesagten Noten wurden erst einmal ignoriert. Sehr wohl berücksichtigt wurde allerdings die ebenso von den Lehrer*innen gelieferte Rangordnung der Schüler*innen in ihren Klassen. Jene wurde dann auf die historischen Ergebnisse von Schüler*innen derselben Schulen in den Vorjahren angewendet.

Da dabei die Notenverteilungen in Prozenten gemessen wurden, aber nur knapp dreißig Schüler*innen in eine Klasse passen, musste viel gerundet werden. Und zwar tendenziell ab, nicht auf, schließlich wollte man die Noten ja drücken.

Wenn also etwa jemand in einer Klasse 2019 ein „U“ gebaut hatte (zum Beispiel durch Nichterscheinen oder Basteln eines Papierfliegers aus dem Prüfungsbogen), musste in der 2020er-Klasse automatisch auch jemand ein „U“ kriegen. Und wenn – wie tatsächlich geschehen – der im betreffenden Fach letztgereihten Schülerin die mittlere Note „C“ vorausgesagt wurde, dann bekam sie stattdessen eben dieses „U“. Und konnte sich den angestrebten Uniplatz ins Haar schmieren.

Da der Algorithmus darauf angelegt war, bereits bestehende Tendenzen negativ zu verstärken, verschärfte er genauso automatisch die Ungleichheiten zwischen verschiedenen Schulen. Insbesondere Schüler*innen, denen über dem historischen Schnitt ihrer Schulen liegende Noten prophezeit wurden, versetzte der Algorithmus buchstäblich zurück auf den ihnen nach dem historischen Status ihrer Schule (sprich Herkunft) zustehenden Platz.

Schüler*innen aus minder privilegierten Haushalten waren davon überproportional betroffen, die Abgänger*innen privater Eliteschulen konnten dagegen sogar eine Zunahme an Oxbridge-Plätzen verzeichnen.

Der BBC-Journalist Lewis Goodall widmete seinen Twitter-Feed tagelang den so erzeugten Härtefällen und trug damit – neben den spontanen Schüler*innendemos – einiges dazu bei, dass die Regierung gestern ihren geliebten Algorithmus erst recht zugunsten der Bewertungen durch die Lehrer*innen aufgeben mussten.

twitter.com

Die Regierung und Ofqual hatten sich aber nicht nur in der Grobheit ihres Algorithmus verkalkuliert. Der emotionale Kern des offensichtlichen Unrechts lag vielmehr in seiner Verletzung des Britischen Traums.

Im Gegensatz zum American Dream ist der Britische Traum von der sozialen Mobilität und dem individuellen Transzendieren der Herkunft nämlich kein Self-Made-Traum, sondern er beruht auf Selektion: Der Hand von oben, die jene, die es verdient haben, aus dem ihrer Klasse zustehenden Leben fischt. Sei es der Talente-Scout eines Fußballvereins, die Jury einer Talente-Show oder eben die Auswahlgremien der Eliteunis.

Um die in Wahrheit durch angeborene, soziale Privilegien geprägte soziale Ungleichheit des britischen Systems zu rechtfertigen, braucht es die Illusion der Fairness. Und genau diese hatte der Algorithmus allzu offensichtlich zerstört, indem er gerade die „outlier“, also die als Vorzeigebeispiele für den möglichen Aufstieg bestimmten Ausnahmefälle mit statistischer Unerbittlichkeit niederbügelte.

Bezeichnenderweise war in der sogar bis in die rechtspopulistische Welt der Daily Mail durchdringenden, medialen Empörung über diesen Skandal nirgends auch nur ein Anflug von Kritik an der hierarchischen Struktur der höheren Bildung an sich zu lesen. Dass nämlich die unterschiedlichen Zukunftschancen eines Individuums derart stark vom Status der jeweiligen erreichten Universität abhängen.

Die in den Algorithmus förmlich einprogrammierte Rückständigkeit der institutionalisierten sozialen Selektion hatte aber auch einen sehr modernen Aspekt, und zwar den Algorithmus selbst.

Da die vor dem „objektiv“ beurteilten A-Level von Lehrer*innen vergebenen Noten normalerweise ohnehin nichts zählen, neigt nämlich nur eine kleine Minderheit von Schulen dazu, ihre Schüler*innen überzubewerten. Ofqual oder das Unterrichtsministerium hätten in der Phase der Anbahnung dieses Fiaskos fünf Monate Zeit gehabt, sich die Noten dieser geschätzten 450 Schulen genauer anzusehen. Viel Arbeit, aber bewältigbar.

Stattdessen legte man sich auf das saubere Kalkül des Algorithmus fest, den Unterrichtsminister Williamson noch vor Tagen als „robust“ und „verlässlich“ beschrieb.

„Billig“ hätte er ehrlicherweise noch hinzufügen sollen.

Denn das ist schließlich in allen Lebensbereichen die Hauptmotivation für die Automatisierung von Entscheidungen, die Menschenleben existenziell betreffen. In Wahrheit werden Algorithmen dieser Art natürlich längst überall eingesetzt, von Berufsbewerbungen über Versicherungsprämien, die ihrerseits von Wohnort und Beruf abhängen, bis hin zur versteckten Rationalisierung von Behandlungen durch das staatliche Gesundheitssystem.

Die menschenfeindliche Arroganz des Algorithmus bleibt dabei für gewöhnlich unsichtbar, in der Vergabe von Schulnoten ohne die theoretische Chance zum Beweis der individuellen Leistung trat sie dagegen ganz offen zutage.

Eine ganze Generation hat jetzt diese Erfahrung gemacht und sie wird (das ist die Hoffnung) schlau genug sein, diese Prozesse einer automatisierten Diskriminierung auch anderswo wiederzuerkennen. Deshalb hat „Fuck the algorithm“ das Potenzial, zu einem der explosivsten Slogans der angehenden Zwanzigerjahre zu werden.

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