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„Zorn und Stille“: Sandra Gugić rollt den Zerfall einer Familie auf

Als „Tour“ hat ein Vater seine letzte Reise von Wien in seine Heimat im heutigen Serbien beim Bestattungsunternehmen vorbereitet. Die Tochter reist zum Begräbnis an, der Sohn ist lang erwachsen und verschwunden. Sandra Gugić erzählt in ihrem neuen Roman „Zorn und Stille“ von der Spurensuche einer ehemaligen Gastarbeiterfamilie.

Von Maria Motter

„Das Leben ist dir nichts schuldig“. Das ist eine der schwer erträglichen Wahrheiten, die eine Mutter ihrer Tochter ins Gesicht sagen kann. In der Fernsehserie „Six Feet Under“ hatte der Muttercharakter Ruth Fisher noch hinzugefügt: „I pity you, Claire. You are under the mistaken impression that life owes you something. Well, you are in for some very harsh surprises.“

Die herben Überraschungen sind in Sandra Gugić’ neuen Roman „Zorn und Stille“ gar keine großen mehr. Zu sehr sind die Protagonist*innen dieser Familiengeschichte von einem rauen Umgang und Entbehrungen regelrecht auf Fleiß trainiert. Hier spielen die Umstände die Hauptrollen.

Am Cover des Romans "Zorn und Stille" von Sandra Gugić ist ein Kaninchen.

Hoffmann und Campe

„Zorn und Stille“ von Sandra Gugić ist im August 2020 bei Hoffmann und Campe erschienen.

Der Vater hat Geheimnisse und seine letzte Reise von Wien in seine „Heimat“ im heutigen Serbien, bei der er beim Bestattungsunternehmen vorbeischauen will, ist vorausschauend geplant. Es gibt ein Video, in dem der sonst so in sich gekehrte Mann unaufhörlich grinst. Nach seinem Tod reist die Tochter Billy Bana nach Serbien und trifft auf ihre Mutter und mit ihr auf die Familiengeschichte, die auch gleich Teile der Vergangenheit Jugoslawiens mit sich bringt.

Konstruktion aus zahlreichen Erinnerungen

Billy heißt eigentlich Biljana Banadinović. Billys Eltern sind als Migrant*innen nach Österreich gekommen, sie sind der häuslichen Gewalt ihrer Eltern entflohen und hatten den Versuch unternommen, selbst bessere Eltern zu werden. Sandra Gugić erzählt in „Zorn und Stille“ von der Spurensuche einer ehemaligen Gastarbeiterfamilie.

Der Ton ist distanziert, die Konstruktion besteht aus zahlreichen Erinnerungen. Hier wird Rückschau gehalten. Billy Bana erklärt sich oft selbst und bezeichnet sich als Beobachterin. Diese Haltung ist nicht allein ihrem Beruf geschuldet. Ihre Mutter hat im Zorn selbst ihren Vater geschlagen, Billy Bana allerdings schlägt nicht um sich, sie haut bei Konflikten einfach ab.

Noch als Teenagerin sucht sich Billy Bana ihre Wahlfamilie. Sie zieht zu Hausbesetzer*innen, ihre Mutter stellt heimlich Lebensmittelpakete vor dem Haus ab. Später zieht Billy Bana zu einer der Hausbesetzerinnen, die eine Galeristin in Berlin geworden ist. Die Beziehung ist komplex und die Machtverhältnisse sind nur angedeutet. In Berlin steht eines Tags unangekündigt Billys Bruder vor der Tür und wird mehr als willkommen geheißen. Aber bald darauf verschwindet der junge Mann spurlos.

Sandra Gugić

Dirk Skiba

„Sandra Gugić ist eine österreichische Autorin serbischer Herkunft“, so steht es am Klappentext. Sie hat auch den schönen und aufregenden Roman „Astronauten“ geschrieben. Aus ihrem neuen Roman „Zorn und Stille“ wird sie am 3. September beim o-töne Literaturfest im Museumsquartier lesen, Beginn ist 20.30 Uhr.

Die Geschichte wird dann noch aus den Perspektiven der Eltern erzählt und wiederholt sich etwas. Historische Ereignisse sind Kurznotizen. Die menschliche Brutalität ist in der Geschichte vielfach willkürlich und das Bemühen, Gewaltspiralen zu durchbrechen, ist durchaus gegeben. In einer der spannendsten Passagen begibt sich der Vater mit dem trunkenen Sohn auf einen frühmorgendlichen Spaziergang. Die Atmosphäre ist so messerscharf geschildert, in jedem Satz könnte ein Totschlag geschehen. Sandra Gugić vermag, einnehmend zu schreiben.

Häusliche Gewalt und Gräueltaten eines Regimes

Doch geht die glatte Analogie zwischen häuslicher Gewalt und den Gräueltaten eines Regimes auf und sich überhaupt aus? Diese Fragen müssen offen bleiben. „Der Zerfall Jugoslawiens“ hat sich gemeinhin als Stichwort etabliert, hier wird rekonstruiert, wie eine Familie zerfällt. Manche Allgemeinplätz in diesem Roman muss man hinnehmen, manche Gleichgültigkeit in Beziehungsfragen wird einen vor den Kopf stoßen.

„Zorn und Stille“ ist einmal eine Geschichte von Menschen, die selbst dem Krieg früh entkommen waren, und erzählt von Umständen, die sich zu einem Einwandererschicksal auftürmen. Zum anderen hangelt sich die Handlung an dem Konflikt entlang, ein Geschwisterchen quasi zurückzulassen, wenn man sich von den Eltern distanziert.

Bei Zsolnay ist mit „Die guten Tage“ von Marko Dinic eine andere, vergleichsweise tiefschürfende Abrechnung mit einem Herkunftsland erschienen. „Zorn und Stille“ von Sandra Gugić, erschienen bei Hoffmann und Campe, ist eine Tochter-Geschichte.

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