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Szene aus dem Film "Tenet"

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FILM

„Tenet“ ist ein Blockbuster der ganz anderen Art

Über die Erfahrung Christopher Nolans Action-Sci-Fi-Spektakel nach Monaten des Kinoentzugs zu sehen. Ein spoilerfreier Augenzeugenbericht.

Von Christian Fuchs

Ein bisschen fühlt sich das Ganze wie ein nervenaufreibendes Experiment an. Ich gestehe, ich war seit Anfang März in keiner regulären Kinovorstellung mehr, aus Gründen.

In zwei Pressevorführungen wagte ich mich bisher trotzdem. Der eine Film, Gespensterkino Marke Blumhouse, versprach einen anderen Zugang zum Genre, entpuppte sich aber nur als Ansammlung allzu vertrauter Klischees. Der andere zeigte Russell Crowe als Amokfahrer und war „Falling Down“ für Arme. Beide Streifen bereiteten mich in keinem Augenblick darauf vor, wie es sich anfühlt richtig großes Kino wieder zu erleben.

Und dann sitze ich mit ein paar Kritikerkolleg*innen im IMAX Saal und warte angespannt auf „Tenet“. Es dauert, aus technischen Gründen verschiebt sich die Vorführung leider um Stunden. Quälendes Warten, was aber nach all den vielen Wochen auch schon egal ist.

Denn Christopher Nolans neuer Film, ziemlich sicher der aufwändigste Action-Sci-Fi-Blockbuster des Jahres, hätte schon Anfang Juli starten sollen. Immer wieder wurde „Tenet“ aber wegen dem Covid-Chaos in den USA verschoben. Der britische Regisseur, ein fanatischer Prediger der Church of Cinema, hat sich letztlich von der Pandemie aber nicht in die Knie zwingen lassen. Ohne den üblichen weltweit synchronen Release bei Filmen dieses Kalibers kommt „Tenet“ nun zuerst in jenen Ländern und Gegenden ins Kino, wo es einigermaßen sicher ist, sich der Leinwanderfahrung auszusetzen.

Szenebild aus dem Film "Tenet"

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Rausch nach einer Phase der Nüchternheit

Und ja, 150 Minuten „Tenet“ sind eine Erfahrung. Entwöhnt von dem Gefühl, von brachialen Bildern und fast noch bombastischerem Sound überrollt zu werden, wirkt der Kinobesuch wie ein handfester Rausch nach einer Phase der Nüchternheit.

Geballte Euphorie stellt sich gleich am Anfang ein. Mit einer atemberaubend inszenierten Actionsequenz in einem ukrainischen Opernhaus übertrifft sich Christopher Nolan selbst. Deutlich möchte der James-Bond-Fan auch der 007-Franchise zeigen, wie überwältigend der Opener eines Agentenfilms sein kann. Gleichzeitig schüttet mein Körper im Laufe der 150 Minuten zunehmend auch Stresshormone aus, denn „Tenet“ ist möglicherweise Christopher Nolans undurchschaubarster Film.

Szenebild aus dem Film "Tenet"

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Es geht, wie so oft bei dem Regisseur, um Manipulationen der Zeit. Eine unbekannte Macht schickt Objekte aus der Zukunft ins Hier und Jetzt, die sozusagen rückwärts funktionieren, „inverted“, wie es im Film heißt. Warum dieser Prozess auch eine Kettenreaktion auslösen kann, die schlimmer als ein 3. Weltkrieg ist, erfährt ein namenloser amerikanischer Agent in einem Geheimlabor.

John David Washington („BlacKkKlansman“) spielt auf faszinierend eigentümliche Weise diese Figur, mit schlafwandlerischem Blick einerseits und extremer physischer Präsenz auf der anderen Seite. Auf seiner Suche nach den Hintermännern der Bedrohung reist der Protagonist (der sich selber so nennt) rund um die Welt, Kiev, Mumbai, London, Oslo, Tallin und die griechische Küste bilden wie in malerischen Spionagethrillern den Hintergrund.

Die Agenten, zu denen auch ein versnobt agierender Robert Pattinson zählt, tragen stets schnittigste Anzüge, trinken teuren Whiskey, auch ein schauspielerisch dick auftragender Kenneth Branagh als russischer Oligarch und Waffenhändler würde als Bösewicht in einen Bond-Film passen.

Szenebild aus dem Film "Tenet"

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Mindfuck-Momente und gigantische Schauwerte

Während Daniel Craigs Superspion ohne obligate Flirt-Szenen schwer vorstellbar ist, gibt es allerdings zwischen dem Protagonisten und der zentralen Frauenfigur des Film nur platonisches Knistern. Elizabeth Debicki überragt punkto Körpergröße zwar alle in „Tenet“, muss aber als verbitterte Geliebte des russischen Ganoven in eine undankbare Operrolle schlüpfen.

Liebe flackert in „Tenet“ einzig in der Bindung einer Mutter zu ihrem Kind auf, Sex ist kein Thema. Das war eigentlich schon immer so bei den tollen, aber prüden Filmen von Christopher Nolan. Aber zumindest wurde der ganze verschwurbelte (T)Raum-Zeit-Wahnwitz in "Interstellar“ oder „Inception“ letztlich durch eine Überdosis Emotionalität geerdet. Es war genau diese plakative Melodramatik, die Nolans präzise programmierten Eventmovie-Maschinen ein Herz und eine Seele verliehen hat.

Szenebild aus dem Film "Tenet"

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Taschentücher braucht man nun bei „Tenet“ an keiner Stelle auspacken. Es ist der eisigste Film des Regisseurs bisher, ein Mix aus irritierenden Mindfuck-Momenten und gigantomanischen Blockbuster-Schauwerten. Die Komplexität, die der Brite bislang oft nur vortäuschte, strengt diesmal wirklich an, der dröhnende Soundmix im IMAX Saal, der essentielle Dialoge verschluckt, macht es nicht besser.

Gleichzeitig steht etwa bei den Autoverfolgungsjagden, die die gesamte „Fast & The Furious“ Saga zum Frühstück verspeisen, wirklich auf spektakuläre Weise die Zeit still. Überwiegend analog, ohne jegliche störend sichtbare Tricks, hebt „Tenet“ das Actiongenre auf ein neues Level.

Szenebild aus dem Film "Tenet"

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Kühne und kühle Versuchsanordnung

Auch wenn eine Boing 747 brennend in die Empfangshalle eines Flughafens crasht, spielen Computereffekte kein merkbare Rolle. In einem „Impulskauf aus dem Internet“, wie er in einem Interview meinte, besorgte sich Nolan einen echten ausrangierten Jumbo-Jet und fackelte ihn bildgewaltig ab. Der Ausnahmekameramann Hoyte Van Hoytema („Dunkirk“) fängt die zahlreichen Materialschlachten imposant im 35mm und IMAX Format ein, auch simple Dialogpassagen verstrahlen dank Ausleuchtung und Setting oft eine gleißende Schönheit.

Wenn man nur abseits des grandiosen, aber zu omnipräsent pumpenden Synth-Soundtracks verstehen könnte, worum es eigentlich wirklich geht in „Tenet". Aber egal, denke ich irgendwann. “Don’t try to understand it, feel it“, meint schließlich eine von Clémence Poésy’s gespielte Wissenschaftlerin im Film. „Tenet“ fesselt auch ohne die grundlegende Züge des Mysteriums zu begreifen, das der Geschichte zu Grunde liegt.

Szenebild aus dem Film "Tenet"

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Erstaunlich eigentlich, denke ich mir verwirrt beim Abspann: Der Film, auf dem die Hoffnungen einer ganzen Industrie ruhen, der die Massen ins Kino zurückbringen soll, geht definitiv nicht auf Nummer Sicher. „Tenet“ ist ein im besten Sinne seltsamer Blockbuster der anderen Art, ein diametrales Gegenstück zum gefälligen Comickino, eine sauteure, kühne und kühle Versuchsanordnung.

Um zur Eingangsmetapher zurückzukehren: Ein Kater bleibt von diesem Rausch jedenfalls nicht zurück. Aber verdammt viele Fragen. Ich habe schon Karten für eine reguläre Vorstellung gekauft, Christopher Nolan ist Schuld.

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