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Sophie Hunger "Halluzinationen"

Jerome Witz

Sophie Hungers „Halluzinationen“

Sophie Hunger ist eine der erfolgreichsten und vielseitigsten Popmusikerinnen der Schweiz. Ihr neues Album trägt den Titel „Halluzinationen“. Eine Begegnung in Corona-Zeiten.

Von Christian Lehner

Vom Konkreten zum Vagen: Das letzte Album von Sophie Hunger hieß „Molecules“. Darauf ging es der Schweizerin um das Stoffliche und Fassbare als Grundlage für menschliche Regungen, man könnte auch sagen, Hunger untersuchte die physikalischen Grundlagen der Gefühle. Der neue Titel „Halluzinationen“ liest sich wie ein Gegenentwurf dazu. „Ich habe wieder Vertrauen gewonnen in das Irrationale und Unerklärliche“, sagt Hunger im Büro ihrer Plattenfirma in Kreuzberg. Als Grund nennt die Singer-Songwriterin Erschöpfungszustände nach eineinhalb Jahren auf Tour und die langen grauen Kältemonate danach, die sie in ihrer Wahlheimat Berlin verbrachte.

Leicht irrational auch die Interview-Situation. Wir sitzen uns mit zwei Meter Abstand gegenüber. Das Mikro ist soeben desinfiziert worden. Ich schwenke es auf einer Teleskop-Stange hin und her und fühle mich dabei wie ein Angler, der nach Antworten fischt.

Vom Konkreten zum Vagen

Sophie Hunger hat die Songs für „Halluzinationen“ noch vor der Corona-Krise geschrieben und aufgenommen. Den Lockdown verbrachte sie in Zürich, wo sie in der Roten Fabrik einen Arbeitsraum erhielt und vor einigen Wochen mit Faber und Dino Brandao ein Konzert unter Hygieneauflagen spielte.

„Die Krise hat bei mir eine neue Wertschätzung bewirkt für das, was ich mache und seit über 10 Jahren machen darf. Die Musik, die Konzerte, das Schwitzen. Ich fühlte mich wie ein Kind mit Spielzeug, das nie damit gespielt hat. Und plötzlich kommt der große Bruder und nimmt es einem weg. In dem Moment realisiert man, was man verloren hat.“

Sophie Hunger Halluzinationen

Jeremiah

Für die Bewältigung der Krise wünscht sich Hunger von den Verantwortungsträger*Innen einen etwas positiveren Ansatz. Gerade im deutschsprachigen Raum herrsche ein seltsamer Hang zur schlechten Nachricht und zur strengen Verhaltensanweisung. Als positives Beispiel nennt Hunger die Krisenkommunikation der neuseeländischen Premierministerin Jacinda Ardern, der sie auf Instagram folgt. „Sie schafft es, die Menschen emotional positiv zu erreichen. Bei ihr hat man das Gefühl, dass alle ein Team sind. Das fehlt mir hier schon ein wenig.“

Deutsche Seele, was ist das?

Mit dem deutschen Anteil ihrer Schweizer Seele hadert Hunger offenbar schon länger. Das hört man einigen Songs auf „Halluzinationen“ auch an. Das letzte Album war noch von einer hörbaren Begeisterung für die neue Heimat Berlin durchdrungen. Hunger tauchte tief ein in die Clubs der Metropole und in die Popgeschichte Deutschlands.

Ihre Mischung aus Kunstlied, Folk, Indie-Rock, Pop und Chanson erhielt auf „Molecules“ neue Zutaten in Form von Krautrock und Clubsounds. Um mehr Kontrolle über die Produktionen zu gewinnen, belegte Hunger einen Engineering-Kurs für Tontechnik.

Doch als sich die unmittelbare Begeisterung für das Neue etwas gesetzt hatte, öffnete sich der Blick für die darunter liegenden Schichten und die kulturellen Nuancen.

„Deutsche Frau, Du bist ganz genau, wenn Du Deinen Käfig misst / Deutsche Frau, Du bleibst Dir treu, selbst wenn es Deine Seele frisst“ – Rote Beeten Aus Arsen

„Da geht’s dann um die Zwischentöne und um Kritik so wie in dem Song „Rote Beeten Aus Arsen“. Ich frage mich, was das eigentlich ist, das Deutschsein. Was bedeutet es, eine deutsche Frau zu sein im Gegensatz zur französischen Frau? Ich bin ja zwischen diesen Welten.“

Und welche Antworten hat sie gefunden? „In Frankreich vertraut man auch auf das Irrationale, das Nebulöse, das Gefühlsbetonte. Die Wahrheit hat immer etwas mit Ungenauigkeit zu tun. In unserer deutschen Kultur ist das umgekehrt. Die Wahrheit lässt sich berechnen. Man nähert sich ihr durch Ausschluss aller Unregelmäßigkeiten.“

Sendungsbild Interview Podcast

Radio FM4

Das vollständige Interview mit Sophie Hunger hier im FM4 Interview Podcast.

Das neue Album „Halluzinationen“ hat Hunger in den Abbey Road Studios in London aufgenommen gemeinsam mit dem Produzenten Dan Carrey, der bereits beim Vorgänger „Molecules“ an den Reglern saß und der sich als Produzent von Kate Tempest, Franz Ferdinand und Hot Chip einen Namen gemacht hat. Auf „Halluzinationen“ haben die beiden nun den Krautrock- Elektronik- und Post-Punk Sound des Vorgängeralbums vertieft, auch wenn dahinter – im Gegensatz zu „Molecules“ – kein Konzept mehr stand.

„Irgendwann hat man sich was angeeignet und dann wird es Teil von den Gewürzen, die man hat. Wenn man etwas kocht, dann schmeißt man das wieder rein. Das ist einfach ein Reflex jetzt. Das ist nicht mehr so: Ich will noch ein Krautrock-Lied drauf haben, sondern: Ja, das klingt gut so, machen wir einfach.“

Aufnahmen in den Abbey Road Studios

Obwohl bei „Halluzinationen“ jeder Ton wie fein säuberlich an seinen Platz gesetzt klingt, ist das Album nicht Stück für Stück arrangiert und überarbeitet worden.

„Wir haben alles live in zwei Tagen und sechs Takes eingespielt. In jedem Take wurde das gesamte Album durchgespielt, drei Mal am Montag, drei Mal am Dienstag. Zum Schluss hatten wir fast schon wieder zu viel Material zur Auswahl.“

Wie hungrig Frau Hunger in Sachen Live-Performance mittlerweile ist, zeigen die Video-Sessions, die sie mit ihrer Band in Zürich aufgenommen hat und die die nächste Zeit Song um Song veröffentlicht werden sollen. Den Beginn machte das Stück „Alpha Venom“, das in dieser Darbietung wie eine ungezogene Version des Originals klingt.

„Ich weiß noch, ich habe den Jungs gesagt: Es gibt da diese Live-Version der Dead Kennedys von ‚Nazi Punks Fuck Off‘. Die sind im Studio und es geht los mit der Song-Ansage und dann ist das so schnell, die können das fast nicht spielen! Und ich habe den Jungs dann gesagt: Genau so will ich ‚Alpha Venom‘ spielen – am Limit der Geschwindigkeit.“

Halluzinationen sind für Sophie Hunger Vorgänge, die Leerstellen in unserem Leben kompensieren, die etwas dazu dichten. „Es erklärt, warum man Kunst braucht und warum man sich nach Träumen sehnt und dem Unwirklichen“.

„Halluzinationen“ ist das siebte Album von Sophie Hunger. Es zeigt eine der vielseitigsten Popmusikerinnen unserer Zeit in Höchstform. Hunger sucht das Irrationale und Vage, die Songs bestechen jedoch durch eine wunderschöne Klarheit.

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