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Flüchtlinge am Budapester Ostbahnhof Keleti

APA/AFP/Attila KISBENEDEK

Wer schafft die Menschlichkeit?

Ein Rückblick auf den Geist und Ungeist hinter dem Sommer 2015 und das systematische Versagen der Regierungen.

Von Albert Farkas

In was für einem Verhältnis stehen Regierungen zu den Bevölkerungen, die sie repräsentieren? Für die Freiwilligen der humanitären Bewegungen, die sich im Sommer 2015 gegründet haben, hat diese Frage einen bitteren Beigeschmack. In ihren Augen stellen die Ereignisse des August und September jenes Jahres, und die seither erfolgten Gegenreaktionen, den Tiefpunkt einer Kaskade der Verantwortungsflucht dar.

Die in den Vereinten Nationen vertretenen Staaten sind laut deren Gründungscharta verpflichtet, ihre „Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“. Das durch die Bildung der UNO verkörperte Versprechen, eine Weltordnung aufzubauen, in der Interessenspolitik vom Ideal eines friedlichen Ausgleichs und der Ächtung von Krieg abgelöst würde, ist gebrochen worden. Natürlich nicht zum ersten Mal, aber auf besonders unversöhnliche, kaltschnäuzige und lang anhaltende Weise anhand des andauernden Syrischen Bürgerkrieges. Augenscheinlich hat keine Regierung seit 2011 ausreichend Lobbying-Arbeit betrieben, um eine friedliche und gerechte Beilegung des Konflikts zu erwirken, oder zumindest involvierte Großmächte davon abzuhalten, ihn zu eskalieren.

Die Sparefroh-Doktrin

Das nächste Versagen betrifft die Weigerung, dieses erste Scheitern anzuerkennen und dessen Folgen so menschenwürdig und zivilisiert wie möglich abzufedern. 13,5 Millionen Menschen sind seit 2011 im Zuge des Syrischen Bürgerkrieges vertrieben worden. 3,6 Millionen Afghan*Innen sind vor den anhaltenden Auseinandersetzungen in ihrem Land geflohen. In der Türkei (Weltkaufkraftindex #56) haben fast vier Millionen Vertriebene Zuflucht gesucht, im Libanon (#86) 1,5 Millionen, in Jordanien (#117) eine Dreiviertelmillion. Anfang 2015 sah sich das World Food Programme, das primäre Nahrungsversorgungsprogramm der UNO, in diesen Ländern, aufgrund der Zahlungssäumigkeit deklarierter Geberländer gezwungen, seine täglichen Zuwendungen an die Geflüchteten um ein Drittel zu kürzen, im Frühjahr dann um die Hälfte. Die Spendensumme, die von Österreich (#16 im Weltkaufkraftranking) nach erfolgten Zusagen im Jahr 2015 bis zum Beginn der Krise im Sommer an das WFP überwiesen worden war: 0€.

Eine gängige Ansicht ist, Regierungsmitglieder wären die obersten Diener*Innen der Staaten und der Menschen, die in ihnen leben. Ihre Gehälter werden aus Steuergeldern bezahlt. Zu den Aufgaben einer staatlichen Exekutive gehört das Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zum Wohl der Bürger*Innen, aber auch die Erfüllung internationaler Verträge. Eine explizite solche Pflicht ist das Einhalten der Genfer Flüchtlingskonvention, der Österreich 1954 beigetreten ist (Griechenland 1960, Serbien 2001, Ungarn 1989). In ihr ist das Recht auf ein Asylverfahren für alle verankert, die in einem Land Asyl beantragen.

Menschen sitzend auf dem Boden am Keleti Bahnhof

Migration Aid

Zeltstadt am Budapester Ostbahnhof im August 2015

Selbstsabotage mit System

Hier nun streiften die Regierungen der genannten europäischen Länder im Sommer 2015 selbst solche Kernaufgaben ab. Konfrontiert mit der Ankunft von manchmal bis zu Tausenden Geflüchteten pro Tag, setzten sie sporadisch ihre Einreisebestimmungen aus, nahmen sich aber gleichzeitig als potentielle permanente Gastgeberländer aus dem Spiel, indem sie die Unzulänglichkeit ihrer Asylkapazitäten und -infrastruktur inszenierten. Die Aktivistin Mahsa Ghafari, damals für die Organisation Flucht nach vorn tätig, sieht in dieser 2015 zur Schau gestellten Handlungsunwilligkeit eine Taktik „vorsätzlich herbeigeführter Überforderungsszenarien“ im Zuge eines „bewussten Staatsversagens“. Mit den vollkommenen Tatsachen ihrer Untauglichkeit hebelten die südost- und mitteleuropäischen EU-Staaten jedenfalls erfolgreich die Regelungen der Dublin-Verträge aus.

Im Zeitalter des Populismus drehten sich manche Politiker*Innen auch mit dem, was sie für die öffentliche Meinung hielten. Es besteht Grund zur Annahme, dass die landesweiten Demonstrationen für eine menschliche Flüchtlingspolitik mit über 20.000 Teilnehmer*Innen in Folge der Schleppergräueltat von Parndorf das Kabinett Faymann II überhaupt erst in die Stimmung gebracht haben, auf den Zuruf der deutschen Regierung die österreichisch-ungarische Grenze für die Schutzsuchenden zu öffnen.

Pannonische Perfidie

Auf die Spitze trieb dieses zynische Schauspiel die ungarische Regierung von Viktor Orbán, der den Neuangekommenen den August über in einem ständigen Mühle-auf-, Mühle-zu-Manöver die Weiterreise per Bahn abwechselnd gewährte und dann wieder verwehrte. So hatte sich bis Anfang September ein ungeplantes Zeltlager im Unterführungskomplex rund um den Budapester Ostbahnhof (Keleti) mit ungefähr 3.000 Bewohner*Innen gebildet.

András Siewert

Migration Aid

András Siewert von Migration Aid

András Siewert, einer der Koordinator*Innen der damals spontan gegründeten Hilfsorganisation Migration Aid, erinnert an die Umstände dieser Missstände: „Niemand hat verstanden, wie das Bahn-Zutrittsverbot in Bezug auf die Flüchtlingsströme irgendetwas zum Besseren verändern sollte. Die Regierung hat sich ansonsten so gut wie gar nicht um die Geflüchteten gekümmert. Alles, was an den Bahnhöfen an Hilfe organisiert wurde, ging von der ungarischen Zivilgesellschaft aus.“ Und es fehlte, über einen Zeitraum von Wochen, buchstäblich an den notwendigsten Dingen: „Es gab nicht einmal ausreichend sanitäre Anlagen. Besonders für Familien mit Kleinkindern war das eine katastrophale Situation. Anfang August hat die Budapester Stadtverwaltung Schläuche angebracht, an denen sich die Leute Wasser holen konnten. Räumlichkeiten, an denen man sich waschen konnte, waren aber nicht vorgesehen. Es mussten örtliche Anrainer, die sich auf einen unserer Aufrufe gemeldet haben, einspringen, und den Leuten ihre Badezimmer zur Verfügung stellen, um ihnen das zu ermöglichen.“

Ecce homo

Neben der Einholung von Garantien seitens der Faymann-Regierung, dass die Vertriebenen auch tatsächlich nach Österreich hinübergelassen würden, hatte Orbán laut Siewert mit dieser Blockade wohl schon die langfristige Aufbereitung des von ihm geschürten Elends im Sinn: Auf der symbolischen Ebene ein kalkuliertes Staatsversagen, um die Sinnhaftigkeit eines völkerrechtlichen Prinzips wie der Anhörung von Geflüchteten dem Hohn preiszugeben, auf der praktischen Ebene politisches Kleingeld mit „hässlichen Bildern“: „Das war der Moment, als die Politik das Thema Migration für sich entdeckt hat, und erkannt hat, dass man der ungarischen Bevölkerung mit diesen Eindrücken von Chaos und Anarchie Angst machen, und sie gegen Ausländer mobilisieren könnte. Und diese Rechnung ist in den darauffolgenden Jahren auch aufgegangen."

Ausgabe von Essen

Migration Aid

Verpflegung auf dem „March of Hope“ im September 2015

Auf eigenen Füßen

Bis zum 4. September hatten die Refugees vom Keleti-Lager genug, und schlossen sich nach einigen internen Vorabbesprechungen lose strukturierter Organisationsgruppen zum Fußmarsch zusammen, den Sozialromantiker*Innen nachträglich zum „March of Hope“ verklärt haben. Die Aufnahmen von Kriegsinvaliden, die sich in Rollstühlen oder auf Krücken auf den 200 Kilometer langen Weg zur Grenze machten, gingen um die Welt und brachten die ungarische Regierung nach Wochen des Nichtstuns unter Zugzwang: Mit solchen archaischen Szenen, geschweige denn von taumelnden Familien-Treks hervorgerufenen, nächtlichen Fahrtbehinderungen auf den Autobahnen wollte sie dann doch nicht in Verbindung gebracht werden. Daher stellte sie eilig Busse auf, um die Aufgebrochenen doch noch halbwegs geordnet vorwärts zu befördern. Wie erfolgreich die ungarischen Behörden sich selbst bis zu diesem Zeitpunkt in Misskredit gebracht hatten, zeigen die Schilderungen von Mahsa Ghafari davon, wie diese Transportangebote aufgenommen wurden:

Einige von den Bussen sind auch länger noch leer geblieben, weil mehrere Geflüchtete sich nicht getraut haben, einzusteigen. Weil sie den Behörden nicht vertraut haben, dass sie sie nicht in irgendwelche Lager bringen. Die ungarischen Lager, und wie dort mit Geflüchteten umgegangen wird, hatten unter den Leuten schon damals einen ganz schrecklichen Ruf. Eine Kollegin von mir musste als Vertrauensbeweis mit in einen dieser Busse steigen und als Begleitperson mitfahren, sonst wären die anderen gar nicht bereit gewesen, sich darauf einzulassen. In den Zügen waren die Reaktionen ähnlich. Jedes Mal, wenn die ungarische Polizei einen Zug angehalten hat, haben die Leute aus Angst angefangen, laut zu beten - oder zu weinen.“

Medizinische Versorgung

Migration Aid

Mitglieder von Migration Aid leisten medizinische Hilfe auf dem „March of Hope“

Backlash ins Nirgendwo

Dafür, dass es während dieser Massenbewegung vom 4. und 5. September zu keinen gravierenden Not- oder Unglücksfällen kam, sorgten die Disziplin und Umsicht der Schutzsuchenden, sowie einmal mehr privat organisierte Helferinnen und Helfer, die die Voranschreitenden begleiteten und versorgten. Selber im Auto mitnehmen durften sie sie nicht, wenn sie sich nicht dem Verdacht der Schlepperei aussetzen wollten. Auch auf der anderen Seite der Grenze erledigten zivilgesellschaftliche NGOs das Gros der logistischen Organisation.

Die Regierungen hatten also die Verantwortung für eine wesentliche staatliche Funktion an Freiwillige abgewälzt, die diese Arbeit im Sinne der Behörden, aber im Gegensatz zu ihnen unentgeltlich leisteten – und dafür schon kurze Zeit darauf angeschwärzt und sogar kriminalisiert wurden. Und das nirgendwo mehr als in Ungarn, wo ihnen unter dem 2018 verabschiedeten (und mittlerweile vom EuGH beanstandeten) sogenannten „Stop Soros“ - Gesetz für die Ausübung humanitärer Aktivitäten sogar Gefängnisstrafen drohen. Maßnahmen, die laut András Siewert ihre Wirkung nicht verfehlt haben: „Es ist ziemlich eindeutig, dass es extrem schwer geworden ist, in irgendeiner organisierten Form zu helfen. Alles, was juristisch oder kommunikationstechnisch möglich ist, um die Arbeit der NGOs zu erschweren, hat die Regierung gemacht. Die meisten haben schließlich mit dem Inkrafttreten des „Stop Soros“ – Gesetzes aufgehört. Heutzutage ist es wirklich nur noch der harte Kern, der in diesem Bereich tätig ist.“

Seit September 2015 sind in Syrien weitere 100.000 und in Afghanistan 10.000 Menschen der Gewalt zum Opfer gefallen. Währenddessen üben sich die Regierungen von innerhalb der Festung Europa weiterhin im systematischen Versagen – in Idomeni, auf Lesbos, in Moria und in Vučjak. Und werfen Fragen auf, für die Erreichung welches höheren, oder auch nur selbstverständlichen, Guts sie eigentlich gewählt werden.

FM4 Auf Laut: Fünf Jahre Refugees Welcome

2015 sind rund eine Million Menschen aus Kriegsgebieten wie dem Irak, Afghanistan und Syrien nach Europa geflüchtet. „Wir schaffen das!“, erklärte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel damals. Fünf Jahre danach diskutiert Alexandra Augustin mit Angekommenen und Freiwilligen von 2015 darüber, was „wir“ wirklich geschafft haben. Wie haben die Ereignisse Zivilgesellschaft und Politik geprägt? Was wurde aus Willkommenskultur und dem Recht auf Asyl? Und wo stehen die Geflüchteten von damals heute?

FM4 Auf Laut am Dienstag, 8. September 2020 um 21 Uhr

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