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Protest in Dover gegen Immigration

APA/AFP/Glyn KIRK

ROBERT ROTIFER

Perfides Albion - trending

Großbritannien, heißt es, wolle das EU-Austrittsabkommen verletzen, bevor noch die Übergangsfrist zu Ende geht. Aber selbst die Quasi-Erklärung eines externen Handelskriegs dient letztlich nur dem internen, britischen Kulturkrieg, der einzigen Front, die Boris Johnson interessiert.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

An sich bin ich bei aller Aufregung ja eher ein Freund der Position, dass man den Zusammenrottungen von Narren und Närrinnen nicht übermäßig viel Aufmerksamkeit zollen sollte, schon gar nicht solche der herablassenden Art, weil sie sich dann erst recht bestätigt fühlen in ihrem Unverstandensein.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ohne irgendwas verharmlosen zu wollen, nehmen wir seit Beginn der Coronavirus-Krise alle an einem Massenexperiment teil, das unsere geistige Gesundheit auf aus Gegenwartsperspektive noch nicht vollständig begreifliche Art auf die Probe stellt. Da ist mit einem Aussetzen der Rationalität bei manchen wohl zu rechnen. Andererseits, wenn es sich bei deren Zusammenrottung um die Regierung des Landes handelt, in dem man lebt...

Vergangenes Wochenende fand sich in Dover ein anderer Haufen Irrer ein, ein paar Hundert Leute aus vorwiegend rechtsextremen Kreisen mit Fahnen und Tattoos, die es für klug hielten, die Ausfahrt des Fährenhafens zu blockieren, um „illegale Einwanderung“ aufzuhalten.

Man könnte ja drüber lachen, zumal jene Flüchtlinge, die Großbritannien auf dem Seeweg erreichen, das nicht per Fähre, sondern per Gummiboot tun und dabei zur Landung aus gutem Grund so gut wie jeden anderen Strand außer den Hafen von Dover ansteuern. Andererseits, wenn die Logik und Handlungsweise dieser Hafenblockade so sehr dem Verhalten der Regierung des Landes ähnelt, in dem man lebt...

Protest in Dover gegen Immigration

APA/AFP/Glyn KIRK

Englische Nationalist*innen blockierten letztes Wochenende den Hafen von Dover.

Sonntagabend verbreitete sich die Kunde, das Vereinigte Königreich erwäge, das erst Anfang des Jahres unterzeichnete Abkommen zum Rückzug aus der EU schon vor Ende der Übergangsfrist zu verletzen. Man behauptet, es gehe nur darum, ein paar „technische Details“ zur Administration des internen britischen Markts auszubügeln. Jener betrifft das Withdrawal Agreement freilich insofern, als Nordirland – zwecks Offenhalten der Grenze zur Republik Irland – de facto im EU-Binnenmarkt verbleiben wird, und somit eine innerbritische Zollgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland entsteht (zur Erklärung: Das Wort „Großbritannien“ steht genau genommen für das Vereinigte Königreich minus Nordirland, eine Unterscheidung, die nun plötzlich eine praktische Rolle spielt).

Nun hat Boris Johnson seiner Bevölkerung vor der letzten Wahl die praktische Unmöglichkeit einer reibungslosen, tariffreien Ein- und Ausfuhr zwischen der Hauptinsel und Nordirland versprochen. Eine minimale Form davon würde zumindest ein Freihandelsabkommen zwischen UK und EU voraussetzen. Danach sieht es momentan jedoch nicht aus, im Gegenteil. Die innenpolitische Stimmungsmusik geht in Richtung eines No-Deal-Szenario, schließlich sieht sich das in seiner Position festgefrorene britische Verhandlungsteam einer unmöglichen Deadline gegenüber. Bis Mitte Oktober müsste ein Freihandelsabkommen fertig sein, um von allen EU-Staaten bis Jahresende ratifiziert werden zu können.

Das sollte eigentlich jede*r hierzulande wissen, es hinderte die britischen Medien aber nicht daran, am Montag breit zu berichten, dass Boris Johnson der EU damit drohe, nicht länger als bis zum 15. Oktober zu verhandeln. Also mit ihrer eigenen Deadline.

Eine kleine politische Unaufrichtigkeit, auch nicht der Rede wert, aber sie demonstriert den Grad, zu welchem Johnson seiner desinformierten Öffentlichkeit hier so gut wie alles erzählen kann.

Und wenn es darauf ankommt, einen unaufrichtigen Rechtsstreit mit der EU über die innerbritische Zollgrenze vom Zaun zu brechen, dann soll ihm das recht sein. Der Zweck ist erreicht: Wenn es bei No Deal zu Reibungen zwischen Großbritannien und Nordirland kommt, dann ist die EU schuld, die dem Vereinigten Königreich nicht die Souveränität zugesteht, seine internen Grenzen selbst zu regeln. Ein Vertragsbruch, sagt ihr? Eure Anwält*innen sollen bestimmen, wie unsere Leute von Schottland nach Nordirland übersetzen? Man kann sich das schon gut ausmalen.

Während ich das hier schreibe, ist das alte Wort perfidious Albion im britischen Twitter gerade trending. Besonnene Geister tweeten nämlich seit Sonntagabend unaufhörlich, dass das UK drauf und dran sei, seinem historischen Ruf des Sprechens mit gespaltener Zunge zu neuem Leben zu verhelfen. Wer sollte mit einem Staat ein Handelsabkommen eingehen, der so offen seine Abmachungen mit der EU bricht?

Allerdings ist es nicht der Stil der Regierung Johnson, über die Frage ihrer Popularität hinaus zu denken. Die Coronavirus-Krise hat gezeigt, dass sich auch die höchste Todesrate in Europa den Überlebenden medial zum gemeinsamen Resilienzerlebnis stilisieren lässt. Ein No-Deal-Desaster kann politisch nützen, wenn es sich als von außen verursachtes Unrecht verkaufen lässt.

Flugzeug mit der Aufschrift "Thank U NHS"

APA/AFP/POOL/Bryn Lennon

Eine Spitfire-Maschine mit der Aufschrift „Thank U NHS“ („Danke dir, nationales Gesundheitssystem“) flog letzte Woche die Spitäler Englands ab. Der Vergleich der Covid-19-Krise mit dem Zweiten Weltkrieg appelliert an das kollektive Resilienzgefühl.

Und Boris Johnson hat das neulich noch ein bisschen sicherer gestellt, indem er den konservativen Tim Davie zum neuen Generaldirektor der BBC bestellen ließ (Labour kann sich kaum beschweren: Die relative politische Eigenständigkeit der BBC wurde schon während des Irak-Kriegs unter Tony Blair demoliert – die damaligen Warnungen, dass das später einmal den Tories nützen könnte, schlug er in den Wind).

Davie ist nicht nur ein in der Wolle gewaschener Brexiter, er ließ auch durchblicken, dass er den vorgeblichen Linksdrall der BBC Comedy-Formate „ausgleichen“ wolle, indem man den ewig regierungskritischen Komiker*innen eine gleiche Zahl an rechtsgerichteten Kolleg*innen gegenüberstellen werde.

Wir erinnern uns an die hochgespielten Scharmützel der Culture Wars diesen Sommer, als es so viel Aufruhr darüber gab, dass die BBC Folgen alter Comedy-Serien wie „Fawlty Towers“ und „Little Britain“ auf dem Altar der politischen Korrektheit opferte?

Im Gegensatz zum linken Gesinnungsterror hält sich die Cancel Culture von rechts oben nicht mit dem Durchkämmen von Archiven auf, sondern färbt lieber gleich die Gegenwart um.

Es ist erst zwei Wochen her, da kreiste die Debatte um die berühmt-berüchtigte Last Night of the Proms, die traditionell einem Union-Jack-wedelnden Vollbad in warmem, nationalistischem Schaum im Rund der Royal Albert Hall gewidmet ist. Diesmal, hieß es, würden die zum Abschluss-Abend des Festivals alljährlich gejohlten Lieder „Rule Britannia“ und „Land of Hope and Glory“ zwar aufgeführt, aber nicht gesungen werden - angeblich aus Gründen der Covid 19-Prävention.

Aber in der rechten britischen Tagespresse, bis hin zur Times, war zu lesen, dass in Wahrheit der anti-nationalistische Eifer der finnischen Dirigentin Dalia Stasevska hinter dieser Entscheidung stehe.

Boris Johnson persönlich half beim Heraufbeschwören der diesen Enthüllungen unvermeidlich folgenden Todesdrohungen an Stasevska, indem er das Nichtsingen von Liedern, die die Herrschaft Britanniens über die Wellen und das Niemals-Sklav*innen-Sein der Briten abfeiern, als einen weiteren Versuch zur Auslöschung der britischen Geschichte bezeichnete.

Und siehe da, der neue BBC-Generaldirektor hat bereits durchgesetzt, dass die Zeilen „Britannia rules the waves“ und „Britons never shall be slaves“ auch heuer nun doch gesungen werden, trotz drohendem Speichelregen (Publikum wird in der Halle zugebenermaßen ohnehin nicht zugelassen sein, die Covid-19-Ausrede war also nie ganz glaubwürdig gewesen).

Man sieht, die Culture Wars lassen sich von rechts oben immer noch besser gewinnen als von links unten (vermeintliche kulturelle Eliten im realistischen Machtvergleich hier einmal mit eingeschlossen).

Trotzdem ist es die Beobachtung wert, dass eine selbstbewusste Herrschaft sich von kritischer Satire oder Comedy bzw. milden kulturellen Widerstandsgesten wie dem Verweigern des Singens patriotischer Hymnen eigentlich nicht eingeschüchtert fühlen sollte. Die alte repressive Toleranz hätte sich in ihrem Widerschein gesonnt. Aber die Spielanleitung der Culture Wars funktioniert nicht mehr nach den alten Regeln der Macht. Sie verleiht sich vielmehr den Anschein der eigenen Ohnmacht und pflegt den Wettstreit der Intoleranzen, nicht zuletzt zur erfolgreichen Spaltung der progressiven, zwischen autoritär agierender politischer Korrektheit und libertärem Instinkt zerrissenen Gegenseite.

Die Guardian-Journalistin Nesrine Malik schrieb dazu kürzlich eine kluge Kolumne mit dem vielsagenden Titel: Der Kulturkrieg der Rechten ist nicht länger ein Nebenschauplatz unserer Politik – er ist unsere Politik.

Und das betrifft, so faktisch irrsinnig dies auch sein mag, letztendlich selbst Boris Johnsons Brexit-Politik. Mit potenziell ruinösen Konsequenzen. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass während seiner am Klavier der patriotischen Gefühle mit hämmernden Fäusten improvisierten Kakophonien hinter der Bühne irgendwer an einem pragmatischen Plan zur Abwendung einer Katastrophe samt Versorgungsengpässen bei Nahrung und Medikamenten arbeite. Der Clown an den Tasten ist die Show, und die Show ist alles, was von diesem Vereinigten Königreich noch übrig ist.

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