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"I’m Thinking Of Ending Things"

Netflix

FILM

„I’m Thinking Of Ending Things“ ist das filmische Verwirrspiel des Jahres

Der Autor und Regisseur Charlie Kaufman hat ein großes Werk für den kleinen Bildschirm gedreht. Es auf Anhieb zu verstehen, ist aber eine Herausforderung.

Von Christian Fuchs

2020 ist ja an sich schon seltsam und verstörend. Da passt es dann um so besser, dass einige der besten Filme und Serien des Jahres besonders rätselhaft und unauflösbar daherkommen.

Ob „Dark“ oder „Devs“ im Heimkino oder „Tenet“ auf der Riesenleinwand: Die dazugehörigen Mysterien sind so komplex, dass unaufmerksame Zuseher*innen kopfschüttelnd aussteigen. Auf der anderen Seite geht es in Gesprächen, Facebook-Postings und Webforen rund, was die dazuhörigen Theorien betrifft.

Das alles gilt jetzt auch für Charlie Kaufmans neuen Film, der (leider) nur via Streaming erschienen ist. Wer nebenbei auf den Laptop schaut, während er am Handy surft, sollte gleich die Finger von „I’m Thinking of Ending Things“ lassen. Der Mindfuck-Quotient dieser Tragikomödie, die an der Oberfläche von einer Beziehungskrise handelt, ist hoch. Christopher Nolans aktuelles Kino-Verwirrstück „Tenet“ wirkt inhaltlich dagegen wie eine Soap-Opera. Der Schreiber dieser Zeilen tat sogar das Verbotene - und schaute sich danach Erklärvideos auf Youtube an.

"I’m Thinking Of Ending Things"

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Befremdlichkeiten schleichen sich ein

Am Anfang zieht uns eine junge Frau (Jesse Buckley, grandios) sofort in ihre Gedankenwelt. „I’m Thinking Of Ending Things“ kündigt sie uns an, anscheinend hat Lucy sich vorgenommen mit ihrem Freund Jake (Jesse Plemons, beklemmend) demnächst über die Trennung zu sprechen. Die Gründe sind offensichtlich. Die beiden reden und fühlen komplett aneinander vorbei, das macht eine lange Autofahrt offensichtlich, die das erste Drittel des Films einnimmt.

„I’m Thinking Of Ending Things“ beginnt also wie ein typischer schrulliger Indiestreifen, der optisch ein wenig an den frühen Wes Anderson erinnert. Aber schon bald schleichen sich Befremdlichkeiten ein. Heißt Lucy eigentlich Louisa und warum wechselt ihr Vorname im Laufe der Geschichte so oft? Welche dunklen Geheimnisse verbergen sich in Jakes Kindheit? Was hat es mit dem alten Schulwart auf sich, der immer wieder auftaucht?

Zuhause bei Jakes verschrobenen Eltern eskaliert die Stimmung. Der Film nimmt surreale Züge an. Wir befinden uns endgültig im Reich von Charlie Kaufman. Als Drehbuchautor wird der gebürtige New Yorker für einige der originellsten und bizarrsten Filme der letzten 20 Jahre gefeiert. Siehe die Skripts zu Meisterwerken wie „Being John Malkovich“ und „Adaptation“, die Kaufman für seinen Freund Spike Jonze geschrieben hat. Oder zu Michel Gondrys immer noch bestem Film „Eternal Sunshine Of The Spotless Mind“, zu Deutsch „Vergiss Mein Nicht“, der ebenfalls seiner Fantasie entstammte.

"I’m Thinking Of Ending Things"

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Verschwurbelter Plot, existentieller Albtraum

Die bewusst windschiefen Wendungen in diesen erwähnten Werken werden aber von charmanten Momenten abgefedert. Entschieden weniger zugänglich wirkte Charlie Kaufmans Regiedebüt „Synecdoche, New York“, ein melancholisches Filmpuzzle, das sich bewusst nicht zusammensetzen lässt. Dass es sich danach bei dem depressiven Animationsfilm „Anomalisa“, zusammen mit Duke Johnson entstanden, um einen Geniestreich handelte, darauf können sich nur eingefleischte Kaufman-Fans wie ich einigen.

„I’m Thinking Of Ending Things“ basiert nun zwar auf einem viel gelobten Mystery-Thriller, aber Kaufman schließt mit der Literatur-Adaption nahtlos an sein bisheriges Schaffen an. Er nimmt sich maximale Freiheiten und macht aus der Genre-Vorlage einen existentiellen Albtraum. Mit choreografierten Tanzeinlagen.

"I’m Thinking Of Ending Things"

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Es geht um nicht gelebte Leben, seelische Verletzungen und die Sinnlosigkeit des Daseins. Also um dieselben Themen, die sich durch die Filme des Autors und Regisseurs Kaufman ziehen. Verpackt ist diese Tristesse aber oft in einen hochgradig verschwurbelten Plot, der Erinnerungen an Luis Buñuel oder David Lynch weckt. Wer übrigens schon einmal etwas von Guy Debord gehört hat, die legendäre Filmkritikerin Pauline Kael kennt oder mit dem Musical „Oklahoma“ vage vertraut ist, kann den langen Gesprächen, die Lucy und Jake führen, eher folgen.

Klingt spröde und anstrengend? Keine Angst, „I’m Thinking Of Ending Things“ ist kein nerdiger Mumblecore-Exzess, der letztlich ins Leere läuft. Der Streaming-Riese Netflix hat sich hier ein ganz besonderes Kunstwerk geleistet, das geradezu nach faszinierenden Mehrfachsichtungen schreit.

"I’m Thinking Of Ending Things"

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Neben den durchkomponierten Bildern und der speziellen Tonkulisse ziehen einen die virtuosen Schauspieler*innen komplett in den Film hinein. Jesse Buckley und Jesse Plemons bestechen in den Hauptrolle als eigenartiges Paar, Toni Colette und David Thewlis verkörpern köstlich die gruseligen Eltern. Dem Hollywood-Sonderling Charlie Kaufman ist schon was ganz Großartiges gelungen.

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