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Morddrohungen und Filmpreise für „Cuties“

Maïmouna Doucourés Debütfilm trifft global den wunden Punkt.

Von Natalie Brunner

Darstellung ist nicht gleichzusetzen mit Billigung. Kunst sollte in der Lage sein, Tabus anzusprechen, ohne notwendigerweise für sie einzutreten. Über etwas zu sprechen oder es darzustellen, zu kritisieren ist nicht das Gleiche wie es zu propagieren. Das scheint manchen Menschen nicht klar zu sein, und so bekam die Regisseurin Maïmouna Doucouré Todesdrohungen für ihren preisgekrönten Debütspielfilm „Cuties“ (im Original „Mignonnes“) und das Netz ist voll mit Kontroversen und Boykottaufrufen gegenüber dem Streamingdienst Netflix, wo der Film seit 9. September zu sehen ist.

In „Cuties“ begleiten wir die 11-jährige Aminata, kurz Amy, durch ein paar für ihr Leben entscheidende Wochen. Sie lebt mit ihrer aus dem Senegal stammenden Familie in Paris. Ihre Mutter bemüht sich, ihren drei Kindern ein möglichst menschenwürdiges Aufwachsen zu ermöglichen, obwohl sie die meiste Zeit mit Weinen beschäftigt ist. Amys Vater ist abwesend, da gerade mit den Vorbereitungen zu seiner zweiten Hochzeit im Senegal beschäftigt. Stellvertretend übt eine alte Frau, die „Tante“ genannt wird, patriarchalen Terror aus und hämmert zu jeder Gelegenheit in die Köpfe der Familie, die Funktion einer Frau sei es zu dienen und Kinder zu gebären und keusch zu sein.

Die Tante zwingt Aminatas Mutter, die Verwandtschaft durchzutelefonieren und zu erzählen, wie glücklich sie über die Zweitehe ihres Mannes sei. Sowohl die Mutter als auch die sich unter dem Bett versteckende Aminata werden während der Telefonate von stummen Weinkrämpfen geschüttelt.

Der Ausweg, den Amy sieht, ist eine Tanzcrew von vermeintlich emanzipierten und selbstbestimmten Mädchen. Die 10- bis 12-Jährigen kleiden und inszenieren sich hypersexuell. Sie twerken, was das Zeug hält, und simulieren Orgasmen in ihren Choreographien. Wenn sie im Pack auftreten, sind sie gnadenlose Bullies.

Im Laufe des Films versteht Amy, dass auch diese Welt kein Gegenentwurf ist, keine Freiheit, Freude und Solidarität bringt, sondern Unterwerfung unter ein konträres, aber ebenso patriarchales Regelwerk, das propagiert, die Funktion der Frau sei es, sexy und geil zu sein.

„Cuties“ ist ein exzellenter Film, weil er uns keine einfache Moral aufbürden will und nicht mit binären Kategorien von „richtig“ und „falsch“ arbeitet. Die französisch-senegalesische Regisseurin Maïmouna Doucouré hat ihre Biographie in das Script einfließen lassen und einen berührenden und subtilen Film aus der Perspektive eines in der Diaspora aufwachsenden Mädchens geschaffen.

Wie wichtig und gut „Cuties“ ist, zeigen nicht nur die zahlreichen Auszeichnungen bei Filmfestivals, sondern die auf Ignoranz beruhende Pseudokontroverse, die entbrannt ist, nachdem Netflix den Film gekauft hat und ein Werbeplakat veröffentlicht hat, das die Mädchen in ihren Tanzoutfits zeigt. Der Vorwurf der Pädophilie und der Sexualisierung von Kindern wurde daraufhin von rechtskonservativen Trollen erhoben, die den Film ganz offensichtlich weder gesehen noch die Inhaltsangabe gelesen haben.

"Für mich ist dieser Film ein Alarmsignal. Der Film versucht zu zeigen, dass unsere Kinder die Zeit haben sollten, Kinder zu sein, und wir als Erwachsene sollten ihre Unschuld schützen und sie so lange wie möglich unschuldig halten“, sagte Maïmouna Doucouré im Interview mit dem Time Magazine und das Gleiche sagen die Stimmen, die sich über den Film empören.

Zwei Mädchen unterhalten sich

Bien ou Bien

„Cuties“ hat auf der zu Amazon gehörenden International Movie Database eines der niedrigsten Ratings der Filmgeschichte, was in diesem Fall wohl als eine Auszeichnung zu verstehen ist, da der Film ein starkes Zeugnis dafür ist, welche Gewalt patriarchale und kapitalistische Stereotypen und religiöse Dogmen weiblichen Kindern und jungen Frauen antun. Diese Realität zu leugnen ist Heuchelei und den Film zu beschuldigen, das zu propagieren, was er kritisiert, sagt mehr über die moralisch Empörten und ihre Angst davor, die Bestimmungshoheit zu verlieren, aus als über das Werk.

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