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The Flaming Lips 2020

George Slisbury

The Flaming Lips und „American Head“

Ein Album als Zeitmaschine. Auf „American Head“ reisen Wayne Coyne und seine Flaming Lips mit Hilfe eines toten Rockstars zurück zur eigenen Jugend. Dort erwarten uns gute, aber auch schlechte Zeiten.

Von Christian Lehner

Es ist ein ewiges Missverständnis der renitenten Landjugend: Man denkt, das wilde Leben findet immer nur in der wilden Großstadt statt. Man träumt von dieser wilden Großstadt. Dann zieht man in diese wilde Großstadt. Man ist wild in der wilden Großstadt. Doch irgendwann – die Kids gehen bereits zur Schule, das Vintage-Rennrad hängt an der Kette im sanierten Altbau - erkennt man, dass die Jugend am Land eigentlich die viel wildere war. Was bleibt sind Erinnerungen. Man muss darüber aber nicht unbedingt ins Schwärmen geraten.

„Wir haben uns nie als eine Band gefühlt, die aus Oklahoma kommt“, erzählt Wayne Coyne, der weißwuschelköpfige Sänger der Flaming Lips via Skype. „Und wir haben uns schon gar nicht als typisch amerikanische Rockband begriffen. Mittlerweile weiß ich aber, dass es sehr wohl von Bedeutung ist, dass wir aus Oklahoma kommen. Und wenn ich bei Konzerten ein Blick zurück über die Schulter auf dieses großartige Ensemble werfe, das die Flaming Lips sind, denke ich mittlerweile, dass wir tatsächlich eine typisch amerikanische Band sind, aber mehr so die ausgefreakte The Grateful Dead-Variante.“

Tom Petty als Inspiration

Der bald 60-jährige Mann weiß wovon er spricht. Seit bald 40 Jahren baut das Band-Kollektiv The Flaming Lips an seiner eigenen Parallelwelt. Darin tummeln sich rosa Roboter, Space-Bubbles und jede Menge fantastische Kreaturen. Die Musik hat oft die Gestalt zwischen experimentellem Krach und Gehirnrinde-erweichendem Folk-Pop gewechselt, jedoch nie ihre Seele verloren. Die ist mindestens so bunt wie ein glitzernder Regenbogenwasserfall, vor dem sich ein paar Gras rauchende Einhörner tummeln.

Programmhinweis: Am Montag, den 14.9.2020, gab es in der FM4-Homebase eine Spezialstunde über The Flaming Lips.

The Flaming Lips haben irgendwann einmal einen Grammy für das beste Instrumentalstück gewonnen, ihr Hit „Do You Realize??“ wurde 2009 vom Lokalparlament zum „Rock Song of Oklahoma“ gewählt, mit acht Shows innerhalb von 24 Stunden halten sie den offiziellen Rekord der meisten absolvierten Konzerte an einem Tag. The Flaming Lips haben Parkplätze und Boomboxen mit irrem Sound bespielt, sie haben ganze Cover-Alben aufgenommen (The Beatles, Pink Floyd), auf einem Flugzeugträger konzertiert und mit Pop-Star Miley Cyrus eine Platte gemacht. Derzeit arbeiten Wanye Coyne und Co. an einem Auftrittskonzept für Corona:

„Wir testen gerade, ob die Plastikkugeln, in denen ich stecke und bei Konzerten über die Fans rolle als Infektionsschutz für das Publikum taugen. Derzeit stapeln sich diese Dinger bei mir zuhause. Bei unseren großartigen Fans könnte ich mir schon vorstellen, dass das funktioniert.“

Der Tod eines prominenten Rockstars bildete nun die Ouvertüre für das neue Album der Flaming Lips. Vor drei Jahren starb Tom Petty. Im Fernsehen lief die Musik-Dok „Running Down A Dream“. Wayne Coyne sah sich das an und entdeckte etwas Interessantes: Tom Petty ist mit seiner Band in den 70er-Jahren eine Zeit lang in Coynes Home State Oklahoma abgehangen und zwar in der Stadt Tulsa, wo Coynes ältere Brüder mit ihrer Biker-Gang Drogen vertickten. Tom Petty legte auf seinem Weg von Florida nach Los Angeles einen Zwischenstopp ein, um in Tulsa Demos aufzunehmen. Aus diesen Tapes sollte später das Debütalbum von Tom Petty and The Heartbreakers hervorgehen.

„Es ist gut möglich, dass meine Brüder und ihre Gang Tom Petty und seine Band getroffen und ihnen Acid verkauft haben“, sagt Coyne. „Das ist zwar Spekulation, aber möglich ist es trotzdem.“

Jugend in der verwelkenden Hippie-Ära

Das Resultat dieser Fantasie ist “American Head“, das 16. Studioalbum der Flaming Lips. Wayne Coyne fragt sich, was passiert wäre, wenn Tom Petty in Oklahoma hängen geblieben und abgestürzt wäre. Welche Musik hätten die Heartbreakers gemacht? Diese fantastische Ebene wird mit realen Erlebnissen aus der Jugendzeit von Wayne Coyne, seiner Familie und Freunden gekreuzt. Es geht um eine wilde Jugend in Oklahoma. Eine Zeit der Tag- und Albträume. Drogen, Fluchtgedanken, viel zu früh verstorbene Freunde, erste Liebe. All diese Sachen.

The Flaming Lips 2020

George Salisbury

Die Songs tragen Titel wie „You And Me Selling Weed“, „At The Movies On Quaaludes“ und “Mother I have taken LSD”. Allein von den Namen der Songs wird man high. Es sind Songs über gute und nicht so gute Zeit im Nirgendwo der USA.

„Oft bin ich in der Nacht hochgeschreckt, so große Angst hatte ich um meine älteren Brüder. Sie waren einfach crazy. Jeden Moment rechnete ich damit, dass ein Polizist bei uns klingelt und die Nachricht überbringt, dass einer der Brüder bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, oder eingebuchtet wurde. Im Song ‚Mother I’ve Taken LSD‘ geht es genau um das: Ich erinnere mich so gut an diese Zeile, weil es das war, was mein Bruder eines Tages meiner Mutter gestand.“

Wir befinden uns am Ende der Hippie Ära. Aus der Hoffnung der 1960er Jahre ist ein amerikanischer Albtraum geworden – Vietnam, Watergate und eine hohe Arbeitslosigkeit prägten die Stimmung des Landes. Mit dem romantisch-naiven Blick auf diese Ära, wie wir ihn etwa von Richard Linklater und seinem (trotzdem großartigen) Film „Dazed & Confused“ kennen, hat „American Head“ herzlich wenig zu tun. Die Stücke sind Come-Down-Songs und Echos aus einer verwelkenden Zeit.

Bestes The Flaming Lips-Album seit langem

Und doch lassen sich die Zustandsbeschreibungen auf „American Head“ leicht auf die aktuellen Verhältnisse in den USA umlegen. Klimakatastrophe, ein brennendes Kalifornien, rechte Milizen gegen Black Lives Matter, die Drogenkrise im Mittleren Westen und die Corona-Pandemie, dazu Mr. Orange im Oval Office - „American Head“ schlägt Brücken in die Gegenwart, ohne dass Wayne Coyne, Michael Ivins, Steven Drozd und die restliche Lips, sowie Gastsängerin Kacey Musgraves jemals direkt darauf Bezug nehmen würden.

Ein melancholischer, aber gleichzeitig magischer und erhebender Tonfall bestimmt die Klangfarbe des Albums. Lange Intros explodieren in teils klagende, teils schwelgerische, aber immer verträumte Exegesen der Vergangenheit. Das Herz pocht, aber es pocht langsam. Nur im Instrumentalstück „When We Die, When We’re High“ zieht das Tempo ein wenig an.

Warum die verbreitete Katerstimmung trotzdem nicht nach Katzenjammer klingt, beantwortet Wayne Coyne mit einer in tausende Songs gemeißelten Singer-Songwriter-Weisheit: „Wenn du etwas hast, das dir Schmerzen bereitet, ein schlechtes Erlebnis oder ein Trauma, und du kannst das in einen Song verwandeln, dann wird es auf eine seltsame Art und Weise zu etwas Schönem, etwas, das dir Trost spendet, anstatt dich fertig zu machen.“

„American Head“ ist das schlüssigste, beste und auch schönste Album der Flaming Lips seit Yoshimi den Kampf gegen die rosaroten Roboter aufgenommen hat. Die Zeitreise hat sich gelohnt. Für die Flaming Lips und für uns.

Mehr zu The Flaming Lips gibt’s in dieser FM4 Homebase Spezialstunde:

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