FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Olivia Wenzel

Juliane Werner

Autorin Olivia Wenzel im Interview

Im Roman „1000 Serpentinen Angst“ schreibt Olivia Wenzel von einer jungen, queeren, Schwarzen Frau aus der ehemaligen DDR. Im Interview erzählt die Autorin, wie sich autofiktionales Schreiben anfühlt und was die Repräsentation von BPOC für sie bedeutet.

von Michaela Pichler

Wie fühlt es sich an, in Ostdeutschland mit Neonazis und einer rassistischen Oma als Schwarze, bisexuelle Frau aufzuwachsen? Dramaturgin und Autorin Olivia Wenzel hat darüber ein Buch geschrieben. In „1000 Serpentinen Angst“ begleiten wir eine namenlose Protagonistin, die in Thüringen aufwächst. Dort, wo sie sich am Badesee vor rechtsradikalen Skinheads verstecken muss.

Seit sie denken kann wird sie mit rassistischer Gewalt und Ausgrenzung konfrontiert. In ihrer Jugend muss sie mitansehen, wie ihr eigener Bruder vor ihren Augen stirbt. Als Erwachsene leidet sie zunehmend unter Angstzuständen. „1000 Serpentinen Angst“ erzählt von Fragen nach Zugehörigkeit und Fremdbestimmung in unserer Gesellschaft. Damit war der Roman heuer auch schon für den Deutschen Buchpreis nominiert. Der Roman ist teilweise autobiografisch – auch die Autorin Olivia Wenzel ist in der ehemaligen DDR als Black Woman of Colour aufgewachsen. Kurz vor einer Lesung in der Hauptbücherei Wien haben wir die Autorin zum Interview getroffen.

Buchcover "1000 Serpentinen Angst"

S. Fischer Verlag

„1000 Serpentinen Angst“ von Olivia Wenzel ist im Frühjahr 2020 im Fischer Verlag erschienen. Mehr zum Buch gibt es hier zu lesen!

Dein Debütroman war für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert, als bestes Debüt wurde „1000 Serpentinen Angst“ mit dem Literaturpreis Fulda gerade ausgezeichnet. Im Feuilleton wurdest du sehr gelobt und auch in meinem Instagram Feed sehe ich immer wieder dein Buch als Literaturempfehlung. Wie geht es dir mit dieser Resonanz?

Olivia Wenzel: Ich selbst habe kein Instagram, aber ich bekomme immer wieder von Freundinnen und Freunden Screenshots geschickt und dann bekomme ich das mit. Zum Beispiel hat es letztens auch Aminata Belli gepostet und sowas ist natürlich voll schön. Auch dass das Buch jetzt so junge Leute erreicht – ich bin Mitte 30, „junge Leute“ bedeutet für mich Personen Mitte 20 oder jünger – aber es lesen auch ältere. Und das hätte ich gar nicht erwartet! Und die Nominierung beim Deutschen Buchpreis auf der Longlist war natürlich richtig cool. Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass ich nicht auf der Shortlist stehe.

Im Roman werden extrem viele Themen und Problematiken angesprochen – von Rassismus-Erfahrungen, schwierigen Beziehungen zur Mutter oder dem Vater, es kommt ein Suizid vor, Trauer und Verlust, die Protagonistin leidet unter Angststörungen. Wolltest du von Anfang an diese Dichte an Themen in einem Buch abbilden?

Olivia Wenzel: Nein. Als ich mit 21 Jahren bei meinem ersten Theaterverlag anfing, bei Schaefersphilippen, da dachte ich, dass ich mit 30 irgendwann ein Buch schreiben werde. Aber was es für eins sein würde, das wusste ich noch nicht. Das hat sich dann erst ab 2016 entwickelt, als ich immer mehr geschrieben habe und gemerkt habe, das geht jetzt doch auch in eine autobiographische Richtung, in Sachen, die ich auch erlebt habe. Und ich nehme mir dann einfach ganz viel Raum, um mir auch diese Verknüpfung genauer anzusehen: Wie ist es, Schwarz zu sein in der DDR? Das sind Sachen, die noch nicht wirklich oft verhandelt wurden. Jetzt wurde ich sagen, ich hätte niemals gedacht, dass ich einmal so ein Buch schreiben würde, aber für das, was ich erzähle, ist es die einzig richtige Form. Es gibt sehr viele schwere Themen, ich hoffe aber, dass es trotzdem noch eine gewissen Leichtigkeit hat.

In deinem Roman geht es um eine junge, Schwarze Frau, die in den 1990er Jahren in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist, später in Berlin lebt. Du bist selbst in Thüringen, in Weimar, geboren und lebst mittlerweile in Berlin. „1000 Serpentinen Angst“ beschreibst du selbst als autofiktiven Roman. Wie schwer – oder wie einfach war es für dich, persönliches in den Roman einfließen zu lassen?

Olivia Wenzel: Die Entscheidung, darüber zu schreiben, war gar nicht schwer. Der Prozess des Schreibens war zwischendurch aber schon sehr anstrengend. Nicht nur, weil es auch für mich schwere Themen sind. Ich habe ja zum Beispiel tatsächlich meinen Bruder verloren und ihm dann nochmal so im Text zu begegnen, auch wenn ich natürlich nicht die Protagonistin bin. Sondern dieses Ich ist wie ein Avatar in einem Computerspiel, das ich gestalte, so würde ich dieses Autofiktionale beschreiben. Aber es ist natürlich trotzdem schmerzhaft, da so durch zu gehen. Mittlerweile hat sich der seltsame Effekt eingestellt, dass je öfter ich da durchgehen, desto fremder und ferner werden mir meine eigenen Erfahrungen. Ich weiß noch gar nicht, wie ich das finden soll, ich beobachte das einfach gerade und bin aber ganz froh, dass ich das alles mal aufgeschrieben habe.

Die namenlose Protagonistin ist bisexuell. Ist Sexualität auch ein Thema, das dir wichtig ist in deinen Werken zu beleuchten? Beziehungsweise auch diese Versrchänkung von bisexuell, ostdeutsch und Schwarz?

Olivia Wenzel: Tatsächlich ist es das erste Mal, das mir eine Frage zur Sexualität im Buch gestellt wird. Die Sexualität im Buch passiert sehr beiläufig, sehr selten wird sie als sinnlich beschrieben oder erlebt, es ist immer eine Art von Distanz dabei. Für mein zweites Buch habe ich jetzt auf jeden Fall vor, mich ein bisschen gründlicher mit Erotik und was wir erotisch finden und warum, zu beschäftigen.

Du hast „1000 Serpentinen Angst“ auch einmal als „Coming out“-Geschichte „of not being white“ bezeichnet. Gab es einen bestimmten Moment, der zu dieser Coming Out Story geführt hat?

Olivia Wenzel: Das habe ich in einem meiner ersten Interviews gesagt, aber dieser Vergleich hinkt ein bisschen. Denn das ist ja nicht etwas Verstecktes - es ist kein „Tada! Ich bin Schwarz, ihr habt es alle nicht gewusst, liebe Welt, und jetzt sag ich es euch!“ Es ist eher ein Prozess des Bewusstwerdens, zu schauen, was es bedeutet Schwarz zu sein in verschiedenen Kontexten. Zum Beispiel in unterschiedlichen Ländern, in der Familie, bei Freundschaften, in Liebesbeziehungen. Was es da bedeutet, Schwarz zu sein, queer zu sein, ostdeutsch zu sein und das in der Verschränkung miteinander.

Das ist dir auch sehr schön gelungen, indem du die Protagonistin auch reisen lässt – zum Beispiel nach New York, Marokko, Berlin oder Vietnam. Und in diesen verschiedenen Situationen nimmt sie sich selbst immer wieder auch anders wahr und wird aber vor allem auch anders wahrgenommen, beziehungsweise fremdbestimmt…

Olivia Wenzel: Fremdzuschreibung ist auch ein sehr großes Thema im Buch. Es geht mir auch sehr um Blicke. Also ich wollte auch meinen Blick mal beobachten, wie ich normalerweise Dinge sehe, also wie ich eigentlich immer überall Weiße Körper sehe. Und wie sich dann eben mein Blick und mein Gefühl verändert, wenn ich das einmal aufbreche. Während des Schreibens habe ich ganz viel Bildmaterial gesammelt, von nicht-Weißen Menschen, zum Beispiel Instagram-Screenshots, aber auch alte Gemälde aus dem 18. Jahrhundert aus den USA. Ich habe dann gemerkt, dass sich da schon ganz doll was verändert, wenn ich auf einmal ausschließlich diese Repräsentation sehe.

Ich habe mir einige Interviews mit dir durchgelesen und in manchen Medien werden immer wieder dieselben Fragen gestellt: Fragen nach eigenen Rassismus-Erfahrungen, nach Hanau und die Black-Lives-Matter-Bewegung. Was stört dich an der Art dieser Debatte im deutschsprachigen Raum?

Olivia Wenzel: Grundsätzlich stört mich, dass es nur eine Debatte ist und es keinerlei Konsequenzen im Sinne von politischen Handlungen oder Gesetzgebung hat. Und bezogen auf mich: Es gab viele Fragen, wo sich die Journalist*innen irgendwie gewünscht haben, dass ich jetzt erst mal an meiner Person belege, dass es überhaupt Rassismus gibt in Deutschland. Oder ich wurde ganz viel zu Racial Profiling gefragt, wo ich dann explizit gesagt habe, dass mir das nicht passiert ist und dass ich es mir auch nicht anmaßen kann, meine Erfahrungsräume mit denen von afroamerikanischen Menschen zu vergleichen. Und es hat mich natürlich geärgert, dass dann immer von Rassismus betroffene Menschen nach den Lösungen gefragt werden. Als hätten nur sie sie parat. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, warum werde nur ich zur Lösung befragt? Das alles hat mich gestört.

Was erhoffst du dir von deiner Leser*innenschaft? Welche Reaktion würdest du am liebsten bei den Lesenden auslösen?

Olivia Wenzel: (lacht) Ich habe nicht so einen didaktischen Zugang dazu, aber im fantastischsten Fall führt es vielleicht dazu, dass wenn sie Weiß sind, sie in solchen Situationen auch gegen Rassismus vorgehen können. Oder ihn vielleicht auch leichter erkennen können. Denn viele Leute sehen es oft gar nicht, wenn etwas rassistisch ist. Aber das ist sehr didaktisch. Ich freue mich, wenn Leute es durchlesen und es nah an sich ranlassen. Und das passiert ja bereits und das freut mich sehr.

Vielen Dank für dieses Interview!

mehr Buch:

Aktuell: