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Sufjan Stevens

Evans Richardson

Sufjan Stevens und sein achtes Album „The Ascension“

Vor vielen Jahren veröffentlichte der vielgeliebte Songwriter Sufjan Stevens zwei Konzeptalben zu den US-Bundesstaaten Michigan und Illinois. Heuer folgte mit „America“, der ersten Single-Auskopplung aus seinem brandneuen Album, ein Abgesang auf sein Land: „Don’t do to me what you did to America“. Das Album „The Ascension“ bezeichnet er als Abrechnung mit einem bröckelnden Weltgefüge.

Von Katharina Seidler

Im Jahr 2002 erzählte ein 27-jähriger Musiker aus Detroit, Michigan, seinem Manager bei einem Abendessen, dass er ein Konzeptalbum über seinen Heimat-Bundesstaat geschrieben hatte. Dieser Musiker hatte nicht nur die sanfteste Stimme des mittleren Westens, er hatte auch eine Vorliebe für Banjo, Trompete und Theatralik und speiste seine Kunst aus einem tiefen christlichen Glauben. Es musste also ein gutes Konzept her, um das Album „Michigan“ unter die Leute zu bringen, auch wenn das PR-Team keinen Zweifel an der Qualität der Musik hatte. Das Abendessen wurde zur Geburtsstunde des „50 States Projects“, oder besser gesagt des Mythos vom 50 States Project, und der Musiker, der bis heute und vermutlich bis in alle Ewigkeit darauf angesprochen werden wird, ist Sufjan Stevens.

Sufjan Stevens

Asthmatic Kitty / Cargo

„The Ascension“ von Sufjan Stevens erscheint am 25.9.2020 bei Asthmatic Kitty / Cargo.

Es war kein Geheimnis, dass er nie vorhatte, jedem einzelnen der US-Bundesstaaten ein eigenes Album zu widmen, aber das herbeifantasierte Lebensprojekt verhalf „Greetings From Michigan: The Great Lakes State“, einem Meisterwerk von einem Album, zu der Aufmerksamkeit, die es verdient hat. Der PR-Stunt wurde zwar praktisch umgehend durch das christliche Nachfolge-Album „Seven Swans“, eine Platte ohne nennenswerte geographische Referenzorte, als solcher entlarvt, aber zwei Jahre später, also 2005, ließ sich Sufjan Stevens dann doch noch zu dem wundervollen „Come On Feel the Illinoise“-Longplayer hinreißen, und der 50 States-Hype ging richtig los.

Wie seine Bandkollegen berichten, bekam Sufjan Stevens ab diesem Zeitpunkt bei jedem Konzert Geschenke, Bücher über Utah, Souvenirs aus Kalifornien, Centmünzen aus allen US-Bundesstaaten. Es wurden Geschichten ausgetauscht, wessen Verwandter den Künstler in einem Café in Iowa gesehen hätte, oder dass er doch als Kind mehrere Sommer in Oregon verbracht hätte – ein sicheres Zeichen. Auch wenn danach kein weiteres Bundesstaaten-Album von Sufjan Stevens mehr erschienen ist, haben die USA den Künstler als Thema seiner Kunst nie losgelassen.

Am heutigen Tag veröffentlicht Sufjan Stevens sein insgesamt achtes Album namens „The Ascension“. Die erste Single daraus hieß: „America“, aber mit Bundesstaat-Vertonungen und Hommagen hatte sie nichts mehr zu tun. „America”, so der Künstler, sei “a protest song against the sickness of American culture in particular.” Bereits vor vier Jahren, kurz nach der Amtseinführung von Donald Trump, postete Stevens ein Statement gegen die Unmenschlichkeit der USA beim Umgang mit Einwanderern. „Christus würde sich für uns alle schämen“, schrieb der Tiefgläubige, „und wir werden für all diese moralischen, spirituellen und politischen Sünden bezahlen“.

„I have loved you, I have grieved
I’m ashamed to admit I no longer believe
Don’t do to me what you did to America"
("America“)

Gerade aus dem Mund von Sufjan Stevens sind diese Worte über eine Glaubenskrise umso herzzerreißender. Sein letztes Album „Carrie and Lowell“ aus 2015 war eine Verarbeitung diverser Kindheitstraumata sowie des Todes seiner Mutter Carrie. Nach diesem zutiefst persönlichen Werk weitet er den Fokus auf „The Ascension“ nun auf die ganze Menschheit aus: Was heißt es überhaupt, in einer Welt wie unserer ein Mensch zu sein?

Stevens fühlt nun ein Grauen, das uns alle betrifft. 12 Minuten dauert sein Abgesang an eine Nation und ihre Kultur, die Musik schwillt an und ab, die Lyrics sind durchsetzt mit biblischen Allegorien als Ankünder einer Apokalypse. Aber es wäre nicht Sufjan Stevens, wenn er nicht auch dieser Tristesse mit größter Zärtlichkeit begegnen würde. „Don’t do to me what you did to America“, der zentrale Satz dieses Songs wird am Ende des Jahres als einer der Slogans 2020 übrig bleiben.

„The Ascension“ verhandelt ganz Sufjan Stevens-typisch wieder die ganz großen Themen der Menschheit: Liebe und Sehnsucht, Verlust und Verderben, Glaube und Absolution. Den zarten Indie-Folk seiner früheren Arbeiten überspannt und erweitert Sufjan Stevens auf dem neuen Album mit kunstvollen elektronischen Arrangements. Songs wie „Lamentations“ klingen gar so, als ob Radiohead sich an eine Neuinterpretation von Tears for Fears’ „Mad World“ gewagt hätten.

Mit fast eineinhalb Stunden Laufzeit ist auch „The Ascension“ ein weiteres Opus Magnum von Sufjan Stevens. In 15 ausufernden, gut und gerne 7-minütigen Songs, elektronischen Kunstwerken, Kaleidoskopen der Songwriterkunst, findet er schillernde Schönheit. Seine komplexen Produktionen konterkariert der Künstler nicht selten mit bewusst simplen Melodien und entwaffnender Kindlichkeit: „My love, I’ve lost my faith in everything, tell me you love me anyway“, heißt es im dementsprechend betitelten „Tell me you love me“. Das direkt daran anschließende „Die Happy“ besteht aus nur einer einzigen Textzeile, dem vielleicht allzumenschlichsten Wunsch: „I wanna die happy“.

Nach welcher Form der Erlösung Sufjan Stevens strebt, ist nicht ganz klar - zwischen Eskapismus und trotzigem Entgegentreten, Isolation und der Sehnsucht nach dem Anderen, Verzweiflung und Transzendenz fächern sich die vielgestaltigen neuen Songs auf wie die bunten Glasscheiben auf dem am Cover dargestellten Kirchenfenster. Trotz des düsteren Grundthemas, der immer drohenden Apokalypse draußen, ist „The Ascension“ eine hoffnungsvolle Platte. Ihr Name bedeutet nicht zufällig „Auferstehung“.

„I should have resigned myself to this
I thought I could change the world around me
I thought I could change the world for best
I thought I was called in convocation
I thought I was sanctified and blessed"
("The Ascension“)

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