Kursänderung zu Upload-Filtern in Brüssel
Von Erich Moechel
Als überhaupt erste Maßnahme zur Umsetzung ihrer voluminösen Digitalagenda hat die EU-Kommission eine Interimverordnung in Begutachtung geschickt. Darin ist die temporäre Aussetzung zweier Artikel der E-Privacy Richtlinie zum Schutz der privaten Kommunikation der Benutzer vor Überwachung durch die Provider vorgesehen. Betreibern solle damit ermöglicht werden, ihre Plattformen nach Kindesmissbrauch zu durchsuchen.
Update 2020 09 28, 17 Uhr
Ganz unten wurde der Artikel noch um die dürftige Quellenlage zu diesem wichtigen Thema und den Grund dafür ergänzt.
Die sollten im nächsten Zug dann dazu verpflichtet werden, das hatte Kommissarin Ylva Johansson (Inneres) im Juli angekündigt. Provider, die gegen diese neuen Filterpflichten verstießen, wurde der Verlust der Haftungsfreiheit angedroht. Vizepräsidentin Vera Jourova (Ethik und Transparenz) und Kommissar Thierry Breton (Binnenmarkt) hatten jedoch zuletzt erklärt, dass die kommende Richtlinie „Digitale Dienste“ weder Upload-Filter vorsehe, noch sei eine Änderung bei der Haftungsfreiheit vorgesehen.
EU-Kommission
„Künstliche Intelligenz“ gegen Kindesmissbrauch
Die geplante Vorabfilterung gegen Kindesmissbrauch basierte auf manipulativ interpretierten Zahlen über große Zuwächse bei Kindesmissbrauchsvideos. Tatsächlich ist die Zunahme primär auf ein Software-Update zurückzuführen.
Am Montag und am Dienstag waren erst Breton, dann Jourova an die Öffentlichkeit getreten, um diesen Kurswechsel bekanntzugeben. Breton hatte die Maßnahme in einem Paket mit handfesten kartellrechtlichen Maßnahmen gegen die dominanten US-Internetkonzerne präsentiert, beide hatten dabei generellen Filterpflichten für Plattformen wie WhatsApp eine Absage erteilt. Diese Kehrtwende um 180 Grad kommt überraschend, zumal Kommissarin Johansson noch Ende Juli genau diese Maßnahmen angekündigt hatte.
Der Entwurf für die Verordnung von Anfang September geht auch in dieselbe Richtung. Anbieter von E-Mail und Messengerdiensten sollen zur anlasslosen Rasterung der Inhalte aller privaten Kommunikationen auf freiwilliger Basis angehalten werden. Neben Bildern und Videos sollen auch alle Textbotschaften nach Hinweisen auf „Grooming“, also auf Anbahnung sexueller Kontakte mit Kindern durchsucht und automatisch gemeldet werden. Dazu wird im Entwurf allen Ernstes der Einsatz von "künstlicher Intelligenz” (KI) empfohlen. Wer mit dem dürftigen Entwicklungsstand von „machine learning“ - das der sogenannten KI zugrundeliegt - auch nur ein wenig vertraut ist, kann über einen solch technikfernen Ansatz höchstens lachen.
EU-Ministerrat
E2E-Verschlüsselung in der EU-Kommission
Ende Juli hatte EU-Kommissarin Ylva Johansson neue Verpflichtungen für Plattformen wie WhatsApp, Apple etc. zur Durchsuchung samt empfindlichen Strafen bei Verstößen angekündigt.
Diese routinemäßigen Durchsuchungen nach pädokriminellen Inhalten sollte laut Johansson auch für verschlüsselte Kommunikation gelten. Zudem hatte die Kommissarin den Providern ganz offen mit dem Verlust der Haftungsfreiheit gedroht. Das hätte das Aus für sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung (E2E) von WhatsApp, Signal & Co bedeutet, denn E2E-Verschlüsselung ist nun einmal dazu da, die Vertraulichkeit der Kommunikation auch gegen überwachungswütige Provider abzusichern.
Diese Kehrtwende trägt eindeutig die Handschrift von Thierry Breton. Auf sein Betreiben hin wurden im Frühjahr alle Mitarbeiter der EU-Kommission dazu verpflichtet, Signal zu benutzen, der als der mithin sicherste E2E-Messenger-Service gilt. Auch im EU-Parlament ist Signal auf dem Vormarsch und dabei, WhatsApp einzuholen. Denn anders als beim Messenger aus dem im übrigen mäßig vertrauenswürdigen Zuckerberg-Imperium lässt sich beim quelloffenen Signal der Source Code überprüfen.
EU-Ministerrat
WhatsApp müsste EU-Parlamentarier überwachen
Im Mai hatte der EU-Ministerrrat das Gesetzesvorhaben blitzartig auf den Weg gebracht. Treibende Kräfte dahinter waren Europol und Gilles de Kerchove, der Anti-Terrorkoordinator.
Mit einer Vorabfilterpflicht würde die Kommission US-Plattformen dazu verpflichten, die derzeit einigermaßen gut abgesicherten Kommunikationskanäle der rund 32.000 Kommissionsmitarbeiter aufzubohren und die gesamten Inhalte der EU-Administration auf Kindesmissbrauch zu scannen. Dasselbe beträfe dann von den Abgeordneten abwärts auch das gesamte Parlamentspersonal, sämtliche, erst in den letzten Jahren eingeführten Sicherheitsmaßnahmen würden damit konterkariert. Diese absurde Konsequenz war bis dahin offenbar keinem der beteiligten Brüsseler „Technokraten“ aufgefallen.
Wohl aber Thierry Breton. Der vom Portfolio her bei weitem mächtigste aller Kommissare kommt nicht nur aus dem IT-Bereich in Frankreich, sondern hat ihn auch wie kein zweiter Manager geprägt. Mit dem Großrechnerproduzenten „Groupe Bull“, France Telecom und dem IT-Dienstleister Atos hatte Breton seit den frühen 90ern die drei größten IT-Konzerne Frankreichs aus der Konkursgefahr nacheinander in die Gewinnzone zurückgeführt. Im Verlauf dessen wurden interne Prozesse jeweils radikal verändert, ganze Produktlinien eingestampft und durch völlig neue abgelöst.
APA/AFP/POOL/Olivier Matthys
Was nun statt Filterpflichten kommt
Ein derart hoch qualifizierter Kommissar für Digitalisierung ist in Brüssel überhaupt ein Novum.Kein einziger der Vorgänger Bretons war überhaupt dazu in der Lage, informationstechnologische Vorgänge eigenständig zu beurteilen. Begonnen hatte der Brüsseler Filterfetischismus 2016 unter Kommissar Günther Oettinger, der nicht einmal mit E-Mail umgehen konnte. Die allerersten Filterpflichten kamen unter Oettingers Regie in die schwer umstrittene Copyrightrichtlinie, die nun auch in Österreich zur Umsetzung ansteht. Die Verordnung zur Bekämpfung des Terrorismus durch Internetfilter ist allerdings seit Jahren im Ministerrat verschollen, weil dort darüber keine Einigkeit besteht.
Was nun anstelle eines weiteren Filterregimes zu erwarten ist, wollten weder Breton noch Jourova genauer sagen. Die Vizepräsidentin deutete nur an, dass nun der Vertrieb von pädokriminellem Bildmaterial näher in Augenschein genommen werde und die dafür verantwortlichen Akteure. Nach fünf Jahren, in denen von Terrorismus bis zu den Finanzproblemen der eingesessenen Medien alle gerade anstehenden Probleme durch Kontrollfilter in Web-Plattformen gelöst werden sollten, hat man in Brüssel jetzt offenbar das Verursacherprinzip entdeckt.
Zur (dürftigen) Quellenlage
Am Sonntag hatte die „Financial Times“ über eine geplante europäische Ratingagentur für Internetfirmen berichtet, Binnenmarktkommissar Thierry Breton schloss dabei auch eine Zerschlagung der führenden Konzerne in Europa dezidiert nicht aus. Die Nicht-Einführung von Vorab-Filterpflichten war hier eine bessere Randnotiz. Am Montag setzte einer der (wenigen) „üblichen verdächtigen“ Berichterstatter zu diesem Thema, nämlich Patrick Beuth vom Spiegel nach.
Am Dienstag informierte EU-Vizepräsidentin Vera Jourova den CEO von Twitter, Jack Dorsey, in einem Videotelefonat über die geplante Abkehr von den Uploadfilterpflichten. Offensichtlich wurde auch das im übrigen sehr empfehlenswerte Nachrichtenportal Euractiv informiert, denn alleine dort findet sich ein ausführlicher Bericht zur kommenden Richtlinie für Digitale Dienste, in deren Rahmen auch die Filterpflichten kommen sollten.
Und das war auch schon die ganze aktuelle Berichterstattung im englischen und deutschen Sprachraum zu einem so bedeutenden Thema. Warum das derart unterberichtet ist, erklärt sich fast von selber. So gut wie alle großen europäischen Nachrichtenportale gehören Print- und TV-Konzernen, auf deren Betreiben Upload-Fіlter in den Text der Coypright-Richtlinie gekommen waren. Und diese Richtlinie wird gerade quer durch Europa national umgesetzt.
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Publiziert am 27.09.2020