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Bilder der Landschaft von Kent aus dem Lockdown

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Wie Kent vom „Garden of England“ zum Niemandsland mit LKW-Parkplatz drauf wird

Vor vier Jahren stimmte die Bevölkerung der Grafschaft Kent in ihrem patriotischen Grenzland-Eifer für die Isolation der Insel. Jetzt bezahlt sie dafür mit der eigenen Abspaltung vom Rest Britanniens, zolltechnisch gesehen.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Unzählige Male hab ich ihn am Zugfenster vorbeiziehen sehen, den dystopischen Anblick der gigantischen Betonstelzen mit den Blinklichtern oben drauf. Darunter der weite, von Stahlseilen getragene Bogen der Brücke über die Themsenmündung, beleuchtet in rot und weiß von den Rück- und Vorderlichtern der darüber kriechenden Autos.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Das Dartford Crossing, schwebende Grenze zwischen Essex und Kent, muss passieren, wer den Südosten der Londoner Ringautobahn befährt bzw. von dort in Richtung der Kanalküste abbiegt. Um 2 Pfund 50 Pence pro Querung.

Früher, als dieses Vergnügen noch bloß ein Pfund kostete, stieß man am Ende der Brücke auf eine Mautschranke, die aufging, sobald man seine Münze in den Schlund eines großen, grauen Plastikkorbs geworfen hatte.

Inzwischen sind die regelmäßig lange Staus verursachenden Mautstellen verschwunden. Kassiert wird online, die automatische Nummernkennung registriert jedes Vehikel, das die von stählernen Lauben hängenden Trauben von Überwachungskameras passiert und somit jenen Teil des Landes erreicht, den die Straßenschilder - mitten in der Betonwüste sich über den Horizont erstreckender von Auf- und Abfahrten - großspurig „Kent – The Garden of England“ nennen.

Bilder der Landschaft von Kent aus dem Lockdown

Robert Rotifer

Landschaftsbilder potenzieller LKW-Parkplätze aus dem Archiv meiner Lockdown-Spaziergänge

Das Kärnten von Großbritannien

Von hier bis zur Küste erstreckt sich also die Grafschaft Kent. Eigentlich weiß ich ja nicht, aus welchem verfehlt romantischen Hang zur nostalgischen Verschrullung alles Britischen die deutschsprachige Diktion darauf besteht, mein „County“ als „Grafschaft“ zu übersetzen. Okay, ein „Count“ ist ein Graf, aber Counties gibt es in den USA auch, und die bezeichnet kein Mensch je als Grafschaften. Und nein, wir werden hier nicht von einem backenbärtigen, Tweed-beschürzten Grafen von Kent regiert, aber meinetwegen, soll sein: Grafschaft.

De facto aber wird darunter demnächst eine von wilden Schmugglern besiedelte, hügelige Pufferzone zwischen dem zum Festland offenen Meer und Restbritannien zu verstehen sein.

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Robert Rotifer

Kent ist gewissermaßen das Kärnten von Großbritannien - südliches Grenzland, das sich was auf seine Stellung als vermeintliches Bollwerk gegenüber den suspekten Nachbarn einbildet. Sein Wappentier, ein auf den Hinterbeinen stehender, reinweißer Schimmel auf rotem Grund, trägt aus nicht ganz einsichtigen Gründen den Namen „Invicta“, die Unbesiegte (die Römer landeten einst hier, die Normannen ein Jahrtausend drauf, eine Legende behauptet, die Bevölkerung von Kent habe sie aus der Provinz vertrieben, sodass sie ihren Weg nach London bzw. Winchester auf einer anderen Route suchen mussten. Weiß nicht, warum wir dann zehn Minuten Fußweg von wo ich das schreibe, eine Normannenburg stehen haben, aber ja, gute Geschichte...).

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Robert Rotifer

Billigdroge Nationalismus

Mit Ausnahme der kleinen liberalen Blase Canterbury stimmten die Leute hier 2016 überwältigend für den Brexit. Dahinter stand gewiss nicht die „economy, stupid“ (wer die 1990er nicht erlebt hat, kann das gern googlen und sich wundern), sondern frei nach X-Ray Spex: „I-dentityyy!!!“

Allerdings, der beharrlich verkannte Hauptschauplatz der vielzitierten Identitätspolitik bleibt immer noch der Nationalismus. Wie gefährlich potent diese Billigdroge ist, zeigte sich erst letzte Woche wieder, als der Buffo-Churchill mit dem mittlerweile deutlich schütter werdenden, den Blick auf eine puterrosa Schädeldecke preisgebenden, weißblonden Wattenhaar dem Unterhaus erklärte, die gerade mit voller Wucht über die Insel hereinbrechende zweite Covid-Welle sei ein Beleg der edlen libertären Instinkte der britischen Bevölkerung. Im Gegensatz zu den Deutschen oder Italiener*innen, deren niedrigere Corona-Infektions-Raten von ihrer angeborenen Hörigkeit künden.

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Robert Rotifer

„Tatsächlich“, sagte Johnson, „gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen unserem Land und vielen anderen Ländern der Welt, und der ist, dass unser Land ein freiheitsliebendes Land ist. Und wenn Sie sich die Geschichte dieses Landes über die letzten 300 Jahre ansehen, dann ist so gut wie jeder Fortschritt, von der freien Meinungsäußerung bis zur Demokratie von diesem Land ausgegangen (Johnson hat in Oxford die Geschichte des alten Griechenland studiert, Anm.), und es ist sehr schwer, von der britischen Bevölkerung zu verlangen, Richtlinien einheitlich zu befolgen.“ (Regie: Schnitt zum Applaus der Schlangestehenden vor der Bushaltestelle am Parliament Square)

So als wären es nicht Johnson selbst und seine Regierung gewesen, die die Pendler*innen unlängst noch angewiesen hatten, sich gefälligst wieder ins Getümmel der Großraumbüros zu werfen. Und auf dem Weg dahin sollten sie der Wirtschaft zuliebe noch schnell die Kühlregale der allzu lange brach gelegenen, von Kettennamen der prätenziösen (Pret-à-Manger) bis prosaischen Art (EAT) gekrönten Sandwich-Buden leerkaufen. Und nachher ab ins Pub.

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Robert Rotifer

Ist aber alles schon wieder nicht mehr aktuell. Wer kann, soll neuerdings wieder zu Hause bleiben, und zwar laut jüngster Voraussage des Buffo-Churchill gleich auf die nächsten sechs Monate.

Es wäre leichter, mit dieser Aussicht umzugehen, wenn sich zur Klaustrophobie und anderen Neurosen dieser problematischen Periode nicht eine weitere, immer dringender in der Halsgegend anklopfende Angst gesellte. Die Angst nämlich, auf diesem kalamitätssüchtigen, kauzigen Kreidefels festzusitzen.

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Robert Rotifer

Ihr müsst wissen, von hier aus kann man dieser Tage nicht einmal mehr nach Frankreich übersetzen, ohne bei der Rückkehr zwei Wochen in Quarantäne zu gehen. Und bis wir diesem Zustand entkommen, wird wohl die Deadline der Brexit-Übergangsfrist vorübergezogen und eine völlig neue, bürokratische Form der Isolation begonnen haben.

Die permanent Positivität postulierenden, populistischen Polyannas des Brexit hatten immer vom „Project Fear“ gesprochen, sobald irgendjemand Kompetente*r vor den verheerenden Konsequenzen des EU-Austritts warnte. Eine staatlich sanktionierte Verschwörungstheorie, derzufolge jene warnenden Expert*innen im Dienst eines mysteriösen, von den regierenden Konservativen unerklärt entfremdeten, sowieso Soros-gesponserten, EU-geilen Establishments stehen. Mit der Mission, den Volkswillen zur Befreiung von der Brüsseler Tyrannei mittels Angstbotschaften zu unterwandern.

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Robert Rotifer

„They paved paradise and put up a parking lot“

Wie sich nun herausstellt, reichte keine der finstersten Prognosen des Project Fear auch nur annähernd daran heran, was Michael Gove, der Chancellor of the Duchy of Lancaster (nicht fragen), letzte Woche im Namen der Regierung als nächste Station der Verwandlung des Vereinigten Königreichs in ein freies Absurdistan verlauten ließ:

Zur Vermeidung des erwarteten, von den neuen Post-Brexit-Grenzformalitäten in Dover produzierten Dauerstaus von 7000 LKWs in einer Länge von 100 Kilometern, also der gesamten Strecke von der Londoner Stadtgrenze bis Dover, sollen die Zollpapiere aller Frächter*innen bereits an der Grenze zu Kent kontrolliert werden. Zur Einfahrt nach Kent sollen LKWs künftig ein „Kent Access Permit“ (unvermeidlich bereits „Kermit“ genannt) vorweisen müssen.

Nachdem man gerade erst der EU vorgeworfen hat, Großbritannien zwecks Bewahrung einer offenen Grenze zwischen Nordirland und Irland eine Zollgrenze in der irischen Sea aufzuzwingen, führt die britische Regierung also nun selbst eine solche auf der Hauptinsel ein und degradiert das bislang unbezwungene Kent zu einer Art Niemandsland für Lastkraftwagen mit vielen neuen, großen Parkplätzen drauf.

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Robert Rotifer

Die Frage, wo all diese Fernfahrer*innen bei ihren zweitägigen Aufenthalten auf dieser Strecke künftig urinieren, geschweige denn defäkieren werden, beschäftigt bereits besorgte Gemüter. Davon abgesehen zeigt sich die Reaktion auf diesen jüngsten schlauen Plan aus Westminster hier unten aber noch erstaunlich verhalten. Realitätsverweigerung ist eben eine verführerisch angenehme Lebensart, die über die letzten vier Jahre hier zur lieben Gewohnheit geworden ist.

Ein Glück für mich EU-Bürger in Kent, der indessen unbemerkt als Teil eines klandestinen kontinentalen Komplotts zur hinterhältigen Annexion der Provinz konspirativ zugange war. Die neue Zollgrenze ist bloß der erste Schritt, bald gehört der Inselzipfel ganz uns, dann rufen wir hier unsere eigene Volksrepublik von Kent aus.

Ui, jetzt hab ich alles verraten, aber wurscht, deutsch liest hier eh keiner.

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