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Schlüssel mit Anhänger in der Form von "YU": Selma Nišić erster eigener Haustorschlüssel zu ihrem ehemaligen Zuhause in Bijeljina

Selma Nišić

Geflüchtete aus Ex-Jugoslawien erzählen ihre Geschichte in der Wiener Hauptbücherei

25 Jahre nach Kriegsende in Bosnien-Herzegowina spürt eine Ausstellung in der Wiener Hauptbücherei bisher kaum wahrgenommenen Geschichten von Wienerinnen und Wienern nach, die zu Beginn der 1990er Jahre vor dem Krieg im damaligen Jugoslawien flüchten mussten.

Von Claudia Unterweger

Selma Nišić war erst 15, als sie mit ihrer Familie nach Österreich flüchten musste. Unter den wenigen Dingen, die sie damals aus Bosnien mitnehmen konnte, ist auch ihr erster eigener Haustorschlüssel zu ihrem ehemaligen Zuhause in Bijeljina. In der Ausstellung „Nach der Flucht“ in der Wiener Hauptbücherei ist das Erinnerungsstück zu sehen. Zum Vorschein kommt dabei, was alles mit dem Flüchtlingsdasein verloren gehen kann: das eigene Wohnhaus, das soziale Umfeld, sogar ein ganzer Staat, der heute von der Landkarte verschwunden ist.

Was bedeutet dieser Verlust? Und wie sieht das Leben nach der Flucht in der neuen Heimat aus? Das sind Fragen, die Geflüchteten nur selten gestellt werden. 25 Jahre lang gab es kaum öffentliches Interesse an den Geschichten von Menschen, die aus Bosnien nach Österreich geflohen sind. Dabei sind 60.000 von ihnen sind hiergeblieben und längst zu Wienerinnen und Wienern geworden.

Nach der Flucht. Aus Ex-Jugoslawien nach Wien – Geschichten von Geflüchteten in den 1990er Jahren
Eine Ausstellung von Vida Bakondy und Amila Širbegović für die Initiative Minderheiten, in Kooperation mit den Büchereien der Stadt Wien. Gefördert aus Mitteln der Integrationsabteilung der Stadt Wien. Zu sehen bis 14. November 2020 in der Hauptbücherei am Gürtel. Bei freiem Eintritt.

„Ein Raum mit 20 Stockbetten, ohne Kopfkissen, mit dreckigen Matratzen, wo wir uns nicht einmal getraut haben, uns hinzulegen. Traiskirchen war wirklich ein Schock“, erzählt Nero Beharić über seinen ersten Eindruck von Österreich. Er war erst 15, als er mit seiner Familie flüchten musste.

Nero Beharić ist einer von 14 Zeitzeug*innen, deren Erzählungen über Hörstationen durch die Ausstellung in der Wiener Hauptbücherei führen. Zu hören ist, wie schwierig die Phase nach der Ankunft für den damals Jugendlichen war. Er war der Einzige in der Familie, der ein bisschen Englisch konnte - schlagartig war seine behütete Kindheit in Bosnien vorbei. „Von Null auf Hundert musste ich als Jüngster in der Familie mit meinem Vater alle Amtswege erledigen und mich um alles kümmern.“

Eine Schuhschachtel voller Briefe

Selma Nišić

Briefsammlung von Amila Širbegovićs Jugendfreund*innen aus Brčko, Zeitraum 1992-1995

Auch Selma Nišić war erst 15 bei ihrer Ankunft in Österreich. Was sie über ihren Alltag damals in der Flüchtlings-Notunterkunft in einem Saal mit 300 Personen erzählt, zeigt, dass das Leben als Teenager trotz allem weitergegangen ist: „Ich habe sehr wohl die Sorgen meiner Eltern und der anderen Erwachsenen mitbekommen. Aber nichtsdestotrotz haben wir Mädchen gleich gewusst: Mit der da bin ich befreundet, und mit der dort nicht. Und mit der da schaue ich mir Jungs an und rede über Musik, und wir zeigen uns unsere Tagebücher, die wir aus Bosnien mitgenommen haben. Für uns Kinder ging das recht schnell.“

Ergänzt werden die Erzählungen der Zeitzeug*innen durch oft auf den ersten Blick unscheinbare persönliche Erinnerungsobjekte. In schräg aufgehängten, wie aus den Fugen geratenen Schaukästen an den Wänden finden sich kleine Schmuckstücke, abgegriffene Geldbörsen, unscharfe Fotos. Sie sind oft unter großem Risiko aus der Heimat geschmuggelt worden und geben Einblick, wie Menschen Krieg, Flucht und Neubeginn erlebt haben.

„Nach der Flucht“ ist eine persönliche und zugleich auch politische Schau. Einige der Zeitzeug*innen berichten von ihrem Kampf um die Mitnahme persönlicher Erinnerungsstücke - trotz Grenzkontrollen und Schikanen durch Soldaten. Die Fotos und kleinen Wertgegenstände waren wichtig für das Weiterleben, für die eigene Identität. Im Bosnienkrieg sei es nicht nur um die Vertreibung von Menschen gegangen, sondern auch darum, die Erinnerung an ihre Existenz zu zerstören, indem man kulturelle Symbole bewusst zerstört habe, schildert Vida Bakondy, eine der beiden Ausstellungskuratorinnen.

Ein Notizzettel mit einer Liste

Selma Nišić

Rada Ercegs Notizzettel von der Flucht

85.000 Schutzsuchende sind aus Bosnien und Herzegowina Anfang der 1990er Jahre nach Österreich geflohen. Wie ambivalent Politik und Medien damals auf die Flüchtenden reagiert haben, zeigen Zeitungsauschnitte aus den frühen Neunzigern, mit Schlagzeilen, die ans Heute erinnern („Das Boot ist voll“), aber auch Reportagen über die massive Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft. Zwei Drittel der Geflüchteten seien schlussendlich hier geblieben, berichtet die Kuratorin Amila Širbegović. Damals habe Österreichs Regierung bewiesen, dass eine rasche pragmatische Aufnahme von Schutzsuchenden möglich ist - wenn es den politischen Willen dafür gibt.

Die Hauptbücherei am Wiener Gürtel ist kein zufällig gewählter Ort für die Ausstellung, betont die Architektin und Stadtforscherin Amila Širbegović im Interview. Sie ist selbst Zeitzeugin und hat gemeinsam mit der Historikerin Vida Bakondy die Ausstellung für die Initiative Minderheiten zusammengestellt.

Es war uns wichtig, dass es ein nicht-kommerzieller Ort ist, dass die Leute nicht extra ins Museum müssen. Wichtig ist auch, dass die Hauptbücherei am Gürtel liegt, zwischen den äußeren Bezirken, die oft ein Ankommensort sind, und den Innenbezirken.

Ohne Menschen von Anderswo wären Wien und Österreich nicht das, was sie sind, sagen die Stadtforscherin Amila Širbegović und die Historikerin Vida Bakondy. Die Migrationsgeschichte Wiens und Österreichs insgesamt ist noch nicht in den Museen angekommen. Auf meine Frage nach dem Warum antworten die beiden Kuratorinnen: „Weil wir in Österreich immer noch nicht anerkannt haben, dass wir eine Migrationsgesellschaft sind. Es ist höchste Zeit, dass diese Geschichten als Teil der Wiener Stadtgeschichte und der Geschichte Österreichs sichtbar werden.“

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