Kleinstadt-Feeling in New York in „Visitation Street" von Ivy Pochoda
Von Felix Diewald
Red Hook ist eines der weniger bekannten Viertel im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Es liegt direkt am Wasser, von hier aus hat man die New Yorker Skyline immer im Blick. Doch in der Realität könnte Manhattan nicht weiter entfernt sein: Denn Red Hook war bis vor Kurzem ein Arbeiterviertel mit hoher Kriminalitätsrate. Mittlerweile verändert sich das Gesicht des Viertels aufgrund von zahlreichen Immobilien-Investments. Dennoch gibt es bis heute keine U-Bahn-Station in der Nähe – man kommt schlecht hin, man kommt schlecht weg. Eine Art Kleinstadt in der Stadt. Dort, im „alten“ Red Hook von vor ein paar Jahren, lässt die Autorin Ivy Pochoda ihren dritten Roman, “Visitation Street”, spielen.
Abenteuer gone wrong
Die beiden Teenager June und Val sind zum Fortgehen noch zu jung, wollen aber etwas erleben. Was tun? Nachts auf einem kleinen aufblasbaren Schlauchboot raus aufs Meer Richtung Big City Life paddeln? Why not.
Die Frische Strömung des Buttermilk Channel zieht die Mädchen vorwärts, aber es kommt ihnen vor, als würden sie von der City eingesogen. „Da gehören wir hin“, sagt June. Sie hebt die Arme und schnippt mit den Fingern. „Wird auch Zeit.“
Ars Vivendi
Am nächsten Morgen wird Val bewusstlos am Ufer gefunden, June ist verschwunden. Das Ereignis spricht sich in der kleinen Red-Hook-Community schnell herum und verändert die Bewohner*innen nachhaltig. Wir folgen der traumatisierten und ausgegrenzten Teenagerin Val. Ihr wird von allen Seiten die Schuld für den Tod ihrer Freundin gegeben.
Ein Viertel, viele Perspektiven
Das Buch wechselt immer wieder gekonnt die Perspektive. Einmal erzählt der libanesische Imbissbesitzer Fadi, dann der gescheiterte, saufende Musiklehrer, ein anderes Kapitel ist aus der Sicht des afroamerikanischen Jungens geschrieben, der die Mädchen im Schlauchboot zuletzt gesehen hat. Diese Methode bringt Abwechslung in die Erzählung, die Autorin beherrscht die verschiedenen Erzählformen zweifellos. Bisweilen lähmt das Hin- und Her-Gespringe aber den Spannungsaufbau.
Straight outta Brooklyn
Die Autorin Ivy Pochoda war früher professionelle Squash-Spielerin und ist in Brooklyn aufgewachsen. Sie kennt sich aus in Red Hook, das merkt man. Die Details, Gerüche, alles ist da und wirkt echt. Ab und zu ist die sehr poetische Sprache etwas dick aufgetragen, stimmig ist der Lokalkolorit aber immer.
Gully-Gestank, Grilldüfte und der Geruch von brackigem Wasser, der sich in Red Hook zu jeder Jahreszeit hält. Die Nacht hallt wieder vom Lärm der anderen: Gelächter, das aus Fenstern fällt, das Call und Response rivalisierender Gettoblaster.
Mehr Reportage als Krimi
Doch je weiter man „Visitation Street“ liest, desto mehr bekommt man das Gefühl, dass die Autorin die eigentliche Handlung zugunsten der ausführlichen Beschreibung von Szenen vernachlässigt. Denn nach dem Unfall mit dem Schlauchboot zum Auftakt passiert für eine Crime Novel anschließend erstaunlich wenig Neues oder Unerwartetes. Die Erzählung wirkt fast wie eine packende Kurzgeschichte, die man im Nachhinein künstlich auf 300 Seiten verlängert hat.
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„Visitation Street“ von Ivy Pochoda ist kein Krimi, der dich bis zur letzten Seite packt. Weitaus spannender ist es, das Buch zu lesen als reportagige Milieustudie über ein sehr eigenes New Yorker Stadtviertel kurz vor der Gentrifizierung.
Publiziert am 30.09.2020